Börsianer in Champagnerlaune

Pech gehabt hat, wer risikoscheu war: Der Deutsche Aktienindex Dax bricht Rekorde. Wachstumsprognosen und Fusionen lassen Kurse explodieren ■ Von Horst Peter Wickel

Der Deutsche Aktienindex Dax taumelt von Rekord zu Rekord, an der Wall Street erreichten nach Weihnachten alle wichtigen Indizes neue All-Time-Highs. Auch an anderen Börsenplätzen sind die Akteure zum Ende des Jahrtausends ganz besoffen im Höhenrausch.

Wer die Entwicklung der Aktienkurse im vergangenen Jahr, aber auch über längere Zeiträume mit den eingestrichenen Zinsen auf dem Sparbuch, bei Anleihen oder Pfandbriefen vergleicht, wird von tiefen Depressionen geplagt – was ist da nur falsch gelaufen? Wer vor 25 Jahren 100 Dollar in den US-Einzelhandelskonzern Wal Mart investierte, hält heute mehr als 340.000 Dollar in den Händen, und wer im März 1986 bei Bill Gates' Microsoft eingestiegen wäre, könnte heute einen Gewinn von 58.000 Prozent verbuchen.

Im Verhältnis dazu muten die Top Five des deutschen Dax mit dem Software-Produzenten SAP und rund 4.500 Prozent Kurszuwachs in zehn Jahren an der Spitze fast bescheiden an. Doch wer beim Börsengang des Walldorfer Unternehmens Mitte 1990 30.000 Mark zusammengekratzt hätte, wäre heute bereits Millionär. Hätte, wäre, wenn doch nur – dummerweise stehen den Shooting-Stars der Aktienszene auch stets und für jeden Zeitraum die Loser gegenüber, deren Kurs sich kaum bewegt oder nur träge vor sich hin dümpelt. Bei der Vielzahl von Investitionsmöglichkeiten, die sich dem Anleger heute weltweit bieten und die von Aktien, Anleihen, Investmentfonds und anderen Wertpapieren bis zu Immobilien und Unternehmensbeteiligungen reichen, ist die Trefferquote kaum höher als beim Lottospiel.

Seriöse Propheten gibt es auch beim Glücksspiel nicht, und so müssen sich Jahr für Jahr die professionellen Börsenanalytiker ihre Irrtümer vorhalten lassen. So sahen Ende 1998 lediglich fünf der mehr als 30 von der Süddeutschen Zeitung befragten Banken, Fondsgesellschaften und Finanzmarkt-Beobachter einen Dax von mehr als 6.100 Punkten voraus, die Fürst Fugger Privatbank und die Fondsgesellschaft Union Investment lagen mit ihren Schätzungen von 5.200 bzw. 5.000 Punkten besonders weit daneben.

Wer sich bei seinen Anlageentscheidungen für das Jahr 2000 vom Rat der Finanzexperten abhängig macht, steht erneut vor einem unüberschaubaren Irrgarten: Wird der Dax im kommenden Jahr nun eher den Vorhersagen der pessimistischen BHF-Bank folgen und am Ende des Jahres auf 6.200 stehen? Oder wird der Index im Laufe des Jahres, so der Gerling-Konzern, auf stolze 8.000 klettern? Wer sich als risikoscheuer Anleger mit der Aussage „Aus ihren 100 Mark könnten 150 werden, aber vielleicht bleiben auch nur 70 Mark übrig“ nicht zufriedengeben möchte, muss auch im kommenden Jahr auf eine Investition in Aktien verzichten. Selbst die Fachleute haben bei zahlreichen börsennotierten Unternehmen ohnehin inzwischen die Übersicht verloren. In der Analystenbranche herrscht Personalmangel, und für mehr als eine Basisprüfung neu notierter Unternehmen ist deshalb häufig keine Zeit. Am Frankfurter Neuen Markt der jungen Unternehmen mussten bereits im abgelaufenen Jahr rund die Hälfte der Prognosen nach unten revidiert werden.

Selbst die Fachleute haben die Übersicht verloren

Wer im kommenden Jahr vorsichtshalber die Finger von einzelnen spekulativen Werten lässt, sollte allerdings mit Optimismus ans Werk gehen können, denn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für eine weitere Steigerung des Dax sind günstig. Führende Konjunkturforscher rechnen im Jahr 2000 mit einem deutlichen Wachstum des Bruttosozialprodukts von mehr als 2,5 bis zu 3 Prozent. Dabei wird die inländische Industrie von einer weltweiten Erholung profitieren, auch wenn der Euro im Kurs wieder steigen wird.

Aber auch die Inlandsnachfrage wird voraussichtlich leicht steigen. Einzige Gefahr sind steigende Preise und damit steigende Zinsen. Fortsetzen wird sich im kommenden Jahr auch die Globalisierung im Unternehmensbereich. Schon 1999 wurden bei weltweiten Übernahmen und Fusionen mehr als drei Billionen Dollar rund um den Globus mit Aktien und Bargeld bewegt, doch „grenzenlose Märkte, das Internet und ein gigantischer Aktienboom treiben sie (die Konzerne) zu immer waghalsigeren Fusionen“ (Spiegel). Dabei lassen gerade geplante Übernahmen die Aktienkurse explodieren, wie das Beispiel Mannesmann in den vergangenen Wochen zeigte. Vor allem am Frankfurter Neuen Markt stehe eine Konzentrationswelle bevor, bei Dienstleistern in der Informationstechnologie, aber bald auch schon bei Medien- und Internet-Firmen.

Eines ist zu Beginn des neuen Börsenjahres sicher: Am Ende des Jahres 2000 wird sich die Situation an den Börsen darstellen wie immer – einige haben es schon immer gewusst, andere haben stets gewarnt, die alte Börsenweisheit („An der Börse wird zum Ein- und Aussteigen nicht geklingelt“) wird sich erneut bewahrheiten, und einige hundert Bundesbürger werden bei Lotto oder Klassenlotterie Millionäre geworden sein. Wetten?