Reise ans Ende der Nacht

■ Travis mit Tarkowski: Andreas Kleinerts „Wege in die Nacht“ ist eine selten düstere Bestandsaufnahme des neuen Deutschlands

Natürlich gibt es einen deutschen Film jenseits der Komödie. Richtig gut sah der zwar in den 90er Jahren auch nicht aus, aber die Hoffnung wächst am Ende der Dekade mit einer neuen Generation von Post-Autorenfilm-Auteurs.

Der in Ostberlin geborene Andreas Kleinert gehört zu dieser Generation. Verlorene Landschaft, Neben der Zeit und Im Namen der Unschuld waren kraftvolle Psychodramen, die sich gleichermaßen durch einen ungebändigten Formwillen wie durch ihr politisches Anliegen auszeichneten. Und wie sonst nur bei Tom Tykwer interessieren Kleinerts Filme die internationale Kritik: Bereits sein Abschlussfilm Leb' wohl, Joseph lief erfolgreich in Locarno; sein neuester, Wege in die Nacht, eröffnete die Autoren-Reihe in Cannes und war neben Herzog der einzige deutsche Beitrag.

Dabei hat sich Kleinert einen Namen gemacht als ein Meister des expressionistischen Graus, des enigmatischen Symbolismus und einer kryptischen Metaphorik. Den Verdacht des Teutonischen ließ sein Manierismus schon deshalb erst gar nicht aufkommen, weil sich darin genug von der Misere des vereinigten Deutschlands vermittelte. Weiß man, dass seine Diplomarbeit unter dem Titel Bewußtseinsebenen in der Filmpoesie von Andrej Tarkowski veröffentlicht wurde, bekommt man vielleicht eine Idee, in was für Bilder sich dieser ganz und gar ungewöhnliche Realismus hüllt. Ein Bild ist bei Kleinert nämlich nie nur ein Bild, und sein Kameramann Jürgen Jürges, der u.a. für Fassbinder, Helma Sanders-Brahms, Robert Klick und Michael Haneke gearbeitet hat, firmiert schon in den Anfangscredits als verantwortlich für die „Bildgestaltung“. Das macht neugierig, wenn nicht skeptisch. Verblüfft stellt man fest: So viel Ambition, auch und gerade wenn sie als durch zwei Generationen und Tradionen gebrochene Reminiszenz an den Neuen Deutschen Film der 70er Jahre daherkommt, hat der Sache enorm gut getan.

Bereits Jürges erste Schwarzweiß-Einstellung, eine lange Fahrt durch eine Fabrikruine, in der Tauben aufsteigen, setzt den Ton. Die Fabrik stand in DDR-Zeiten unter der Leitung von Walter (Hilmar Thate, Der König von St. Pauli). Arbeitslos und auf die bescheidenen Einkünfte seiner Frau angewiesen, zieht er nun mit zwei jüngeren, genauso ohnmächtigen Vereinigungsverlierern durch die S-Bahnen Berlins, um für „Ordnung“ zu sorgen. Ihre Vigilanten-Mission eskaliert zusehends, wie der Versuch, in der Gewalt Sinn zu finden, scheitert und unaufhaltsam auf die Katastrophe zusteuert. Kleinerts Existentialismus mag man in einer anderen Welt zwar nicht teilen, dennoch lässt er einen anderthalb Stunden aufs Faszinierendste vergessen, dass man in einem deutschen Film sitzt. Und genau da könnte ein neues deutsches Kino beginnen.

Tobias Nagl

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