Schillernde Kleinlebenwesen

Zwischen Netzwerkpolitics, Schrammel-Posen und dem berühmten Mod-Parka: Die verborgen blühende Indie-Pop-Tundra des Marsh-Marigold-Labels lädt zum traditionellen Weihnachtsfestival  ■ Von Felix Bayer

Oliver Goetzl hat viel zu tun zurzeit. So viel zu tun, dass er in diesem Jahr zur Vorbereitung des traditionellen Festivals seines Ein-Mann-Labels Marsh-Marigold Hilfe in Anspruch nehmen musste. Denn Goetzl ist nicht nur Indie-Pop-Doyen, sondern auch Biologe. Ein Film über die Tierwelt in der nordeuropäischen Tundra, an dem er mitwirkte, wurde Mitte Dezember in N3 ausgestrahlt, „zur Primetime natürlich“. Er sei auch kurz zu sehen, erzählt Goetzl: „Wenn man es weiß, erkennt man mich an meinem Mod-Parka“.

Ah ja, Oliver Goetzls berühmter Mod-Parka: Zusammen mit seinem Ohrring aus Stacheldraht und seinem nicht enden wollenden Enthusiasmus für geschrammelte Gitarren und schüchtern melancholischen Gesang gab er schon vor fast zehn Jahren dem unvergessenen Journalisten Olaf Dante Marx den Anlass zu einer Art Liebeserklärung an Goetzl. Seitdem hat der treue Iserbrooker zwar viele Kenntnisse in der Biologie hinzu gewonnen, aber bei Marsh-Marigold ist alles beim alten geblieben: Pop hat weniger mit Hitparaden, dafür um so mehr mit Melodien zu tun; 7-Inch-Singles sind schöner als CDs; wer Platten in den USA und Japan verkauft, braucht sich nicht über mangelnde Beachtung in der deutschen Musikpresse zu grämen.

Die Welt des Indie-Pop ist international, aber relativ abgeschlossen: Was früher über Mailorder-Kataloge ging, funktioniert über das Internet natürlich viel besser – im Presseinfo spricht Marsh-Marigold von „Netzwerkpolitics“, und wenn man die Sache mit der Politik nicht zu hoch hängt, stimmt das auch. Dass mit Belle & Sebastian in den letzten Jahren eine Indie-Popband aus der Abgeschlossenheit in die große weite Pop-Öffentlichkeit gezogen wurde, hat der Welt des Indie-Pop nicht geschadet, zumal auch niemand auf die Idee kam, aus dem Erfolg der einen Band einen Trend zu konstruieren. Also bleibt die Welt des Indie-Pop von den Aufregungen des Showbiz so abgeschieden wie die Tundra aus dem Tierfilm von den Metropolen der Welt. Doch einsam ist man in der Indie-Pop-Tundra nie.

Das wird sich auch beim traditionellen Marsh-Marigold-Weihnachtsfestival zeigen, das nach der Jubiläums-Extravaganza des Sommers 1998 in der Markthalle in die heimelige Prinzenbar zurücckehrt: Wie immer werden die Indie-Popfans von weither anreisen und freudig ihr Wiedersehen am Plattenstand feiern. Bands spielen natürlich auch. Zum Beispiel Brideshead aus Wiesbaden, die über die internationalen Netzwerke des Indie-Pop im Herbst zu einer Tournee entlang der US-amerikanischen Ostküste kamen. Neben hübschen Erinnerungsfotos brachten sie die Erkenntnis mit, dass man sich dort ebenso gern an die Posen des jungen Morrissey erinnert, in die sich Bridesheads Sänger allerdings mit der respektvollen Zurückhaltung des jüngeren Verwandten wirft.

Der Rest des Abends gehört der norddeutschen Fraktion des Labels, die sich in den letzten Jahren neu formiert hat. Labelchef Goetzl wird dabei neue Erklärungen liefern müssen, warum seine Band Knabenkraut immer noch keine eigene Platte herausgebracht haben. Da sind Kristallin aus Itzehoe schon weiter: Kürzlich erschien die erste Single der Nachfolgeband von The Legendary Bang, an die sich sogar die Newsletterautorin des Londoner Rough-Trade-Ladens erinnern konnte. Musikalisch orientiert man sich in Itzehoe weiterhin an der Hochgeschwindigkeits-Schrammelgitarre von The Wedding Present, deren Sänger David Gedge sogar qua Songtitel ein Denkmal gesetzt wurde. Eine echte Entdeckung sind hingegen Alaska aus Hamburg, deren Debütsingle „Kings Of The Class“ nicht nur in den musikalischen Mitteln (Orgel!), sondern auch in der Emotionalität Vorbildern wie Felt oder den Bands vom verblichenen Sarah-Label sehr gelungen nachzufolgen versteht.

„Die Kamerateams machten Aufnahmen von der unendlichen Einsamkeit des Nordens, aber auch von der faszinierenden Vielfalt seiner Tierwelt“, kündigte der NDR den Film über die Tundra an. Faszinierend an der Indie-Pop-Welt im allgemeinen und Marsh-Marigold im besonderen ist mehr als nur der schiere Überlebenswille: Es gibt zwar keine großen Tiere, aber die sich oberflächlich ähnelnden Kleinlebewesen schillern bei näherem Hinsehen in sehr unterschiedlichen, teilweise wunderschönen Farben.

Marsh-Marigold-Festival: Prinzenbar, 30.12.99, 20 Uhr