Die Leinwand als Leib Christi

Birgt das Kino noch letzte Wahrheiten, oder ist es längst ein seelenloser Apparat? Vielleicht löst der neureligiöse Film metaphysische Fragen ganz nebenbei – mit der Versöhnung von Pop und Religion. Eine kleine Exegese vor der Jahrtausendwende ■ Von Kerstin Stolt

Wie die Kirche ist das Kino ein verdunkelter Raum, in den buntes Licht fällt, und viele Menschen sitzen dort eingeklemmt und starren nach vorne. Dennoch hat Hollywood die Grundfesten der christlichen Kultur bisher nur schamhaft ausgeschlachtet. So wurden die blutigen Wahrheiten des Abendlandes bisher nur am Rande, in Vampir- und Horrorfilmen, abgehandelt. Erst „God’s Army“, mit Christopher Walken als eifersüchtigem Erzengel, hat das Christentum als das mythische Spektakel ernst genommen, das es ist. Inzwischen erweisen sich Engelskriege, Teufelsanbetungen und die Entzifferung verwitterter Schriftzeichen aber nicht nur als popkulturtauglich, sondern auch als möglicher Breitensport. Der zweite Teil von „God's Army“ lief gerade im Kino („Prophecy II“, glücklicherweise hat ihn niemand gesehen), in Peter Hyams' „End of Days“ kommt der Teufel zur morgigen Jahrtausendfeier, und Johnny Depp stößt im neuen Polanski auf ein Buch, das Satan selbst geschrieben hat. Außerdem startet demnächst „Stigmata“, in dem die Friseuse Frankie dieselben Verletzungen erleidet wie Jesus vor seinem Tod. Zwischen Action- und Fantasyfilm differenziert sich also langsam der metaphysische Schocker aus, in dem selbst Kraftpakete wie Arnold Schwarzenegger die Waffe fallen lassen und sich vergeistigen.

Trotzdem geht es im neureligiösen Film meistens ganz konkret und fleischwund zu. Es ist sogar seine größte Stärke, dass er zu einer splattergerechten Wortwörtlichkeit zurückfindet, die uns die moderne Theologie fast ausgetrieben hätte. Statt dass Himmel und Hölle als Abstrakta entmythologisiert werden, gewinnen derlei Metaphern einen neuen Wirklichkeitsanspruch und verkörpern sich – hoc est corpus meum – im Special Effect. Immerhin (muss man wohl sagen) steht der Realitätsstatus dieser Erscheinungen noch zur Debatte. Die durchweg skeptischen Helden arbeiten sich an der Frage ab, ob Tricktechnik bloß Blendwerk oder eine Form der Transsubstantiation ist (katholisch für die Verwandlung von Filmmaterial in den Leib Christi). Es geht dabei also um nicht mehr und nicht weniger als um den Glauben ans technisch hoch gezüchtete Kino: Birgt es letzte Wahrheiten oder ist es nur ein seelenloser Apparat?

Diese Frage stellt sich vor allem, wenn Satan selbst einen seiner Kurzfilme zeigt, wie in „End of Days“. Hier gibt sich Luzifer (sprich: der Lichtträger) als wandelnder Filmprojektor zu erkennen, der Schwarzenegger mit einer Sneak Preview möglichen Glücks in Versuchung führt. Der Noch-Ungläubige besteht die Prüfung aber, weil er den Film als „not real“ entlarvt. In Polanskis „Die neun Pforten“ führt der Gang in die Hölle sogar auf eine blendende Leinwand zu, als verheiße schon das Licht aus dem Vorführraum nichts Gutes. Auch der Vatikan in „Stigmata“ traut den Filmaufnahmen, die ihm zugespielt wurden, nicht recht über den Weg. In diesem Fall hat eine Überwachungskamera in der New Yorker U-Bahn gefilmt, wie eine junge Frau von unsichtbaren Kräften ausgepeitscht wird. Gabriel Byrne soll daraufhin als offizieller Ermittler prüfen, ob diese Aufnahmen auch wissenschaftlich erklärbar sind. Mit all seinem technischen Gerät lernt er, dass man den Heiligen Geist tatsächlich aufzeichnen kann, er wird dadurch nicht weniger. So geriert sich das Kino als Evangelium für Analphabeten oder zumindest als entfernter Verwandter des 70er-Jahre-Bibelcomics. Ob es deshalb zu einer neuen Frömmigkeit gefunden hat, darf man getrost bezweifeln. Denn in erster Linie beschreibt der Actionfilm seine eigene Produktion in metaphysischen Begriffen. Während sich das gesamte überirdische Personal im Bild zusammendrängt, bleibt lediglich im Off, was diese Erscheinungen möglich macht. Aus christlichen werden so Kinometaphern; die Leerstelle, um die alles Sichtbare kreist, verbirgt nur, was hinter der Kamera vonstatten geht. Und das ist zwar nicht viel, aber immer noch genug Transzendenz für einen gelungen Abend. Banal wird es erst, sobald ein Film wie „Die neun Pforten“ ständig auf das Unvorstellbare verweist und es dann vor die Kamera zerrt (Emmanuelle Béart schwitzend auf Johnny Depp – was für ein Dämpfer). Religion ist eben auch nur Porno, wenn man alles zu sehen bekommt.

Den gut-christlichen Film erkennt man erst daran, dass er Kinometaphysik an Hand von Schriftabbildungen evoziert, also möglichst geheimnisvollen Zeichen, die sich wie ein Off im Bild ausnehmen. Wobei der forschende Kamerablick verspricht, doch noch irgendwie sichtbar machen zu können, was sie bedeuten. Die Filme beginnen allesamt mit langen Aufnahmen von Buchstaben, Büchern oder Lesern. Im Vorspann von „Stigmata“ bewegen sich die Schriftzeichen sogar schon, als bildeten sie einen plastischen Körper. Das vermisste Evangelium Jesu Christi ist denn auch das Movens des Films; der Geist, der von Frankie Besitz ergreift, braucht sie nur zum Dikat. Da seine Niederschrift in aramäischem Steno erfolgt, bleibt die Offenbarung allerdings eine Frage der Entschlüsselung. Das gilt auch für das Gegenbuch, mit dem sich Depp beschäftigt: Nur die richtige Lektüre lässt den Teufel erscheinen. Denn all diese Schriften haben ja nicht nur gemeinsam, dass sie fragmentarisch, schwer zu finden oder kaum lesbar sind. Sie besitzen eine wenn auch abgedroschene Aura als heilige Texte, die das hervorbringen, wovon sie reden (ungefähr wie Drehbücher). In „Stigmata“ und „Die neun Pforten“ erfasst die Kamera deshalb geduldig, was es zu lesen gibt – das Aramäische wird sogar von rechts nach links gefilmt – und übersetzt die Zeichen qua Foto, Kopie, Fax und E-Mail schließlich in die eigenen Codes. Welche Macht (gut oder böse) die Texte geschrieben hat, spielt dann auch keine Rolle mehr, denn sie sagen alle nur eins: Es werde Film.