Das 20. Jahrhundert war mit Erlösungshoffnungen aufgeladen, geprägt von der Sucht nach Perfektion. Was wir jedoch brauchen, ist eine Kultur des Fehlers – als Kern einer neuen Politik
: Die unvollkommene Moderne

Die abendländische Krankheit ist der Glaube an die eine Wahrheit

Noch nie gab es so viel Berechnungsmöglichkeiten und eine so unberechenbare Zukunft ... Noch nie waren die Menschen so wohlriechend und die Umwelt so übelriechend ... Noch nie war es so leicht, sich seine Wünsche zu erfüllen, und so schwer, sich zu freuen.

Alles Goethe. Faust. Der Noch-nie-Sound macht den Kontrapunkt zur Fortschrittsmelodie. Dieser Tage wird das alte Klagelied noch mal voll ausgespielt. Die Fortschrittshymnen sind mit den Ideologien verklungen. Avanti populi – perdu. Kein letztes Gefecht. Nur noch Bella ciao. Die Sorgenagitation ist die einzige, die uns geblieben ist. In der Überzeugung, dass alles immer schlimmer werden muss, weil es nie mehr ganz gut werden wird, wirkt noch das süße Gift des Endzeitglaubens. Paradies und Katastrophe gehören zu ein und derselben Religion. Utopie und Apokalypse sind Schwestern. Himmel auf Erden, die Heilsbotschaft des 19. Jahrhunderts, führte zu den Endspielen im 20. Jahrhundert, die die Erde zur Hölle gemacht haben. Nun wissen wir, dass es Todesengel sind, die immer auf die Zukunft verweisen, die Gegenwart auszehren und als Schlachtfeld hinter sich lassen.

Traum und Trauma des 20. Jahrhunderts war die fertige Welt. Mit Erlösungshoffnungen aufgeladene politische Bewegungen versprachen endgültig gute Verhältnisse oder gar die Verwirklichung der Wahrheit. Das war der eine Traum, an den zwar niemand mehr so recht glaubt, aus dem wir aber immer noch Maßstäbe beziehen. Doch der Typus von Kritik, für den jeder Schatten schon zur Denunziation reicht, befindet sich in rasendem Zerfall. Der andere Traum ist die Obsession eines For-ever-young-Alltags sowie die Infantilisierung und Selbstinfatilisierung des Konsumenten.

Das Trauma, die Kehrseite der Erlösung und anderer Drogen, ist wütende Destruktion. Den hohen Idealen kann nichts wirklich standhalten. Endgültige Lösungen und absolute Wunscherfüllungen nähren die Angst vor der fertigen Welt und den Wunsch sie einzureißen. Zerstörungslust ist die Ultima Irratio des Fortschrittsglaubens.

Was wären Voraussetzungen einer Zivilisierung? Welche Chance hat das Programm „Erde auf Erden“? Wie ließe sich die Erlösungspanik mildern? Mit einer Kultur, in der Menschen nicht mehr glauben sich retten zu müssen! Bisherige Geschichtsphilosophien sahen uns auf dem Weg zur Vollendung. Nun gilt es, auf die Verheißung zu verzichten, wir befänden uns in der Zielgeraden der Vorgeschichte, in alle Opfer recht sind, Hindernisse zu liquidieren.

„Die totalitäre Bewegung“, schrieb Hannah Arendt, „erfüllt das Bedürfnis des Einzelnen, sich von der eigenen, unerträglichen Lebenserfahrung abzuwenden. Sie interpretiert das Gegenwärtige nur als Stufe in einem gesetzmäßigen, geschichtlichen Prozess. Die Abschaffung von Selbstbestimmung macht einen Teil der Anzeihungskraft totalitärer Bewegungen aus.“ Was wären Voraussetzungen für die Lust an der Selbstbestimmung?

Die Zukunft der Moderne wird eine der Unvollkommenheit sein – oder sie wird nicht sein“, schreibt der in England lebende polnische Philosoph und Soziologe Zygmunt Baumann. Perfektion und Wahrheit indessen, vor allem die eine Wahrheit, mit ihrem Alleinvertretungsanspruch und nicht zu verwechseln mit der Wahrhaftigkeit des Sprechens, sind das so verführerische wie zerstörerische Gegenkonzept zur Pluralität und Dissidenz des Menschen.

Wenn Hannah Arendt von menschlicher Pluralität sprach, dann hieß das für sie, „ ... dass jeder Mensch an einer Stelle in der Welt steht, an der noch nie ein anderer stand“. Jeder Mensch ist gewissermaßen ein Dissident. Jeder ist anders unvollkommen und eben weil wir unvollkommen sind, brauchen wir den Zusammenschluss. Dieser Zusammenschluss ist Politik. „Es geschieht nichts Neues unter der Sonne“, schrieb Hannah Arendt, „es sei denn, dass Menschen das Neue, das in die Welt kam, als sie geboren wurden, handelnd als einen neuen Anfang in das Spiel der Welt werfen.“

Jeder hat einen anderen Ausgangspunkt. Es ist ein Ausgangspunkt für Bewegungen, kein Standpunkt, von dem aus man den Rest der Welt rezensiert, beurteilt oder verurteilt. Den einen, uns von der Qual unserer ursprünglichen Einsamkeit und Fremdheit erlösenden, einzig richtigen und stabilen Weltpunkt, ihn gibt es nicht. Glauben wir an ihn, dann könnten wir uns um die große zerklüftete und schöne Weltlandschaft bringen, dann könnten wir dieses differenzierte Spiel in den Zwischenräumen mit einem Satz überspringen und dabei die Welt erledigen.

Noch mal Hannah Arendt: „Jede Wahrheit, ob sie nun den Menschen ein Heil oder ein Unheil bringen mag, ist unmenschlich im wörtlichsten Sinne, weil sie zur Folge haben könnte, dass alle Menschen sich plötzlich auf eine einzige Meinung einigten, sodass aus Vielen einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände.“ Die abendländische Krankheit, die die Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation von Anfang an begleitet, ist der Glaube an diese eine Wahrheit.

Die Genesis einer diesseitigen Religion der Unvollkommenheit würde weder mit „Am Anfang war das Wort“ noch mit „Am Anfang war die Tat“ beginnen. Nein, am Anfang war der Fehler, die Mutation, eine nicht geplante, nicht vorhersehbare Operation. Und am Ende? Am Ende steht die Perfektion, wenn alles gemacht worden und nichts mehr zu tun ist.

Unser größter Mangel heute ist einer an Anfängen. Wir leiden in der Zu-vieli-sation, an einer neuen Form von Traurigkeit: „Ich fühle mich jedesmal armselig und mutlos“, schreibt der amerikanische Literaturwissenschaftler Geoffry Hartmann, „wenn ich mehr Verbraucher als Produzent bin.“

Wer produziert, macht Fehler. Nur wer ausführt, was sich schon bewährt hat, wer wiederholt und nachplappert und wer konsumiert, glaubt keine Fehler zu machen. Genau genommen: Er vermeidet kleine Fehler und macht dabei den großen, er vermeidet sich selbst.

Was wäre denn, wenn alle Fehler überwunden werden könnten, so wie es das Leitbild unserer abendländischen Kultur seit mehr als 2000 Jahren verlangt? Was, wenn die menschliche Fehlerhaftigkeit oder Fehlerfähigkeit besiegbar wäre? Für Zukunft wäre kein Platz mehr. Fertige Welt! Sollte es möglich sein, den Mangel abzuschaffen, dann wäre das die große, finale Implosion.

Paradies und Katastrophe gehören zu ein und derselben Religion

Man stelle sich vor, die Sicherheitsingenieure der Einzeller hätten sich vor Milliarden von Jahren mit dem doch ganz plausiblen Vorhaben durchsetzen können, in der Evolution dürfe es fortan keine Kopierfehler, also keine Mutationen geben? Sie, liebe LeserInnen würden diesen Artikel nicht lesen und auch keinen anderen.

„Perfektion“, so T. S. Elliot, „bekommt keine Kinder.“ Sie ist steril. Dennoch: Fehler bleiben Fehler und Mangel bleibt Mangel, auch wenn sie lebensfördernd sind und Entwicklung überhaupt erst ermöglichen. Es kommt also darauf an, die Ambivalenz zu erkennen. Franz Kafka sprach von seiner wunderschönen Wunde, „mit der ich auf die Welt gekommen bin. Das einzige, was ich habe.“ Die Wunde ist eine Quelle und sie bleibt doch eine Wunde. Vielleicht kann man das Bild noch weiter treiben: Der Mensch ist die offene Wunde der Evolution. Und weil jeder anders verwundet ist, weil jeder anders unvollkommen ist, nur deshalb sind wir Individuen. Wir steigern unsere Indivuduation, wenn wir unsere Wunde nicht über die Maßen vor uns selbst und anderen verbergen und wenn wir die Narben nicht der Wunde vorziehen. Und wir steigern damit auch den Wunsch nach den anderen. Es geht also darum, eine Fehlerkultur zu erfinden, eine Kultur, in der Fehler gemacht werden dürfen, weil sie die Voraussetzung allen Gelingens sind. Aus diffusen Gefahren und Bedrohungen werden in dieser anderen Grammatik des Denkens und Beobachtens Risiken, die wir selbst produzieren und verantworten. Das wäre auch der Kern einer anderen Politik.

Wenn man sich umsieht, wird man überall zarte und an vielen Stellen sogar schon kräftigere Pflanzen aus diesen fehlerfreundlichen Kulturen entdecken. Nicht zuletzt das Ausbleiben der Jahr-2000-Panik ist ein gutes Zeichen für eine neue Kombination aus Pragmatismus und Vision.

Reinhard Kahl