Opfer helfen den Tätern

In Indien richtet sich der Zorn der Öffentlichkeit gegen die eigene Regierung und weniger gegen die Entführer des Passagierflugzeugs

Das Stockholm-Syndrom hat eingesetzt. Der Begriff, angelehnt an die Besetzung der deutschen Botschaft in Schweden 1975, beschreibt die Entwicklung positiver Gefühle zwischen Kidnappern und ihren Opfern, wenn beide in derselben Extremsituation zusammenleben. Doch im Fall des am Weihnachtsabend entführten indischen Airbusses erscheinen die Symptome des Stockholm-Syndroms nicht bei den Geiseln, sondern bei deren Angehörigen. Sie halten auf dem Flughafen von Delhi, beim Krisenzentrum vor dem Amt des Premiers und vor dem Außenministerium Mahnwache. Unter den Spruchbändern sticht besonders „Freiheit für Azhar“ ins Auge, als wären die Frauen, die es hochhielten, Sympathisanten des islamistischen Klerikers und seiner Entführer-Freunde und nicht deren Opfer.

Neben gemeinsamem Beten sind Spruchbänder eines der sanfteren Mittel, mit denen die Angehörigen den Politikern sagen, wie sie die Verhandlungen zu führen haben. Wenn in der Kälte eine der Wartenden ihre Fassung verliert und hemmungslos zu weinen beginnt oder wenn schlechte Nachrichten eintreffen, bildet sich immer wieder ein auf die Polizisten losmarschierendes Knäuel von Schreienden. In den ersten Tagen gelang es einigen Erregten, eine Pressekonferenz des Außenministers zu sprengen und eintreffende Mitglieder des Krisenstabs zu bedrängen.

Erstmalig versuchen sich die Geiseln über ihre Angehörigen in die Verhandlungen einzuschalten. Bei früheren Entführungen standen, so meinte ein Kommentator, die meisten Leute mit bangem Schweigen vor den verschlossenen Türen der Fluggesellschaft und lasen die an die Wand geklebten Ankündigungen. Nun sitzen die Wartenden in der Abflughalle und schauen Fernsehen, das rund um die Uhr über Fortschritte und Rückschläge berichtet. Fernsehteams tauchen bei den Angehörigen auf und befragen sie. Diese haben erkannt, wie wichtig das Fernsehen nicht nur als Informationsquelle ist, sondern auch als Instrument, mit dem sie den Gang der Dinge beeinflussen können.

In mehreren Städten kam es schon zu Demonstrationen für die Rettung der Geiseln. Dabei tun sich besonders indische Muslime hervor. Islamische Organisationen haben zahlreiche Stellungnahmen an die Medien geschickt, in denen sie den Piratenakt sowie die Taliban und Pakistan verurteilen. Die Muslime, die vor Pakistans Botschaft demonstrierten, drückten zweifellos ihre echten Gefühle aus. Aber Indiens muslimische Minderheit weiß auch aus Erfahrung, dass die regierungskritischen Slogans der Angehörigen rasch in eine Lynchstimmung gegen die islamischen Mitbürger umschlagen können.

Die Medien geben den regierungskritischen Stimmen breiten Raum. Die Regierung von A. B. Vajpayee hat dem Druck der Straße und der Medien bisher nicht nachgegeben und hält sich alle Optionen offen. Sie artikuliert den Balanceakt zwischen der Sorge um das Leben der Mitbürger und den Staatsinteressen mit der Sprachregelung, es gehe ihr „in erster Linie um die Sicherheit der Geiseln und vor allem um die nationale Sicherheit“.

Nach der Ausweitung der Forderungen der Entführer vorgestern forderten aber immer mehr Stimmen die Regierung auf, den Entführern nicht nachzugeben. Die Regierung weiß, dass es im Fall toter Geiseln schnell zu einer politischen Krise kommenkönnte. Auch dies wird bei den Verhandlungen berücksichtigt werden, weshalb immer mehr Stimmen einen Tauschhandel vorhersagen.

Bernard Imhasly, Delhi