Ihr Kind wird die Welt hassen

Deutschland gehört zu den kinderärmsten Ländern der Welt. Und tatsächlich spricht vieles gegen Nachwuchs. Er behindert die Karrieren der Eltern und ist ein Armutsrisiko. Vor allem aber: Kinder haben dunkle Zukunftsaussichten. Eine Polemik von Nadine Lange

Sie haben sich das also gut überlegt? Nach drei Jahren Ehe und der Beförderung von Dietmar wollen sie es jetzt endlich angehen – das Projekt Kind? Sie haben sich eingestellt auf Windeln, Geschrei, wenig Schlaf und noch weniger Freizeit? Sie glauben sogar, dass Christiane bald wieder in ihren Beruf zurückkehren kann? Das ist mutig. Das ist schön. Denn so freuen sich nicht nur Ihre Eltern über ein süßes Enkelkind, sondern Sie helfen auch die seit den Sechzigerjahren sinkende Geburtenrate zu verbessern. Ein Hoffnungsschimmer für das angenagtes Sozialsystem, denn Ihr Kind wird als Einzahler in dieses System dringend gebraucht.

So heldenhaft sehen Sie das gar nicht? Sie wollen einfach nur einem Kind Ihre Liebe und einen guten Start in dieses Leben schenken? Dann sollten Sie vielleicht noch einmal kurz darüber nachdenken. Seine schönste Zeit wird Ihr Kind nämlich im Fruchtwasser verbringen. Wirklich willkommen ist die kleine Anna (nennen wir sie mal so) in dieser Gesellschaft nicht. Kinder sind immer zu laut und immer im Weg. Öffentlich lässt man sich am besten nicht mit ihnen sehen, und die Wohnung sollte auch schallgedämmt sein. In Städten gibt es kaum Platz für Kinder. Verkehr und Wohnungsbau gehen vor, ein paar Alibispielplätze können das nicht überdecken. Weil es draußen zu gefährlich ist, werden Anna und ihre Freundinnen hauptsächlich in Wohnungen aufwachsen.

Die größten Sorgen müssen Sie sich aber um Bildung und Berufswahl Ihrer Kleinen machen, denn wenn sie groß ist, werden nur noch hoch qualifizierte, ultraflexible Superhirne gebraucht. Schon jetzt sollte man für einen gut dotierten Job einen Hochschulabschluss, drei Fremdsprachen, zwei Jahre Beruferfahrung und höchstens dreißig Lebensjahre auf den Arbeitsmarkt mitbringen. Kinder und Jugendliche spüren diesen Druck: In den Neunzigerjahren steht die Angst vor Arbeitslosigkeit ganz oben auf ihrer Sorgenliste und hat damit die Angst um die Umwelt und den Frieden verdrängt.

Also, managen Sie Annas Zukunft schon frühzeitig! Das fängt bei der Wahl der Freizeitaktivitäten an: Am besten suchen Sie ein Hobby aus, das sich später gut im Lebenslauf macht, etwa eine langjährige Mitgliedschaft in einer Theatergruppe oder Hockeymannschaft – als Beweis von Teamfähigkeit. Gute Noten sind sowieso Pflicht, und einen Computer muss die Kleine selbstverständlich auch beherrschen. Das klingt anstrengend und ist es auch. Kindsein ist schon lange kein Spaß mehr. Das liegt auch daran, dass die Kindheit selbst allmählich verschwindet, wie es Neil Postman schon 1983 formulierte. Kinder werden immer mehr zu kleinen Erwachsenen: Ihre Popidole wie Britney Spears oder die Band „Echt“ sind selbst noch Teenies, verhalten sich aber wie ihre älteren Kollegen. Als KonsumentInnen werden Kinder schon lange für voll genommen: Sie verfügen über Taschengeldmillionen und Einfluss auf die Kaufentscheidungen ihrer Eltern. Bereits im Kindergarten bilden sie eine eigene Zielgruppe und sind damit wichtige MitspielerInnnen in der Marktwirtschaft.

Aber zurück zu Anna: Richtig ernst wird es für sie nach der Schule. Das Wort Lehrstellenmangel wird auch im Jahr 2016 trotz Zwangsabgabe für nicht ausbildende Betriebe, trotz immer neuen verzweifelten „Jobs für Junge“-Kampagnen bedrohlich in den Ohren der SchulabgängerInnen klingeln. Anna kann froh sein, wenn sie einen Ausbildungsplatz bekommt. Dass sie lieber Buchhändlerin als Köchin lernen würde, ist Pech. Sie muss nehmen, was sie kriegen kann. Vielleicht entscheidet sie sich aber doch dafür, Abitur zu machen. Besser so. Ein Drittel der Auszubildenden hat heute schon diesen Schulabschluss. Ausserdem könnte Anna anschließend studieren. Am besten etwas Solides wie Jura oder BWL. Bei einer Geisteswissenschaft kann sie sich schon im ersten Semester darauf einstellen, ihren Nebenjob als Kellnerin oder Platzanweiserin irgendwann zur Vollzeitbeschäftigung auszubauen. Während des Studiums wird sie auf jeden Fall jobben müssen. Denn Studiengebühren werden inzwischen die Regel sein und das BaföG kaum für die Miete reichen. Einige Semester im Ausland wollen auch finanziert sein, schließlich gehört das in den Standardlebenslauf. Bis zum Diplom oder dem Magister wird Ihre Tochter einen ganz netten Schuldenberg aufgeschüttet haben.

Nach ein bis zwei Jahren, in denen sie zum Teil arbeitslos war oder in Jobs gearbeitet hat, für die sie eigentlich überqualifiziert ist, wird Anna eventuell ihren ersten Einjahresvertrag unterschreiben. Wahrscheinlicher ist jedoch eine freie Mitarbeit, bei der sie sich selbst versichert. Nebenbei muss sie sich laufend weiter qualifizieren, denn „Bildung wird so wichtig wie Sauerstoff werden“, wie Kommunikationswissenschaftler Peter Glotz prophezeit. Das Wort Rente wird Anna nur noch aus Ihren Klagen kennen. Sie selbst hofft, irgendwann mal genug zu verdienen, um in eine private Altersvorsoge einzahlen zu können. Vorerst ist sie froh, wenn sie die laufenden Kosten abdecken und länger als zwei Jahre in einer Stadt leben kann. Anna wird ihr Leben lang arbeiten müssen. Aufhören kann sie sich nicht leisten. Im Alter droht Einsamkeit, für eine Familie hatte sie nie Zeit. Auch Freundschaften waren schwer zu halten. Ihren Lebensabend wird Anna in einer WG oder einem Heim verbringen.

Damit nicht genug. Auch die Natur wird dieser Generation wesentlich unheimlicher sein als ihren Eltern: Steigende Meeresspiegel fressen die Küstenregionen an, und die Sonne brennt nicht nur in Australien gefährlich durchs Ozonloch. Ganz zu schweigen von mutierten Tier- und Pflanzenarten, die in der Folge von gut gemeinten Genmanipulationen entstanden sind.

Das Leben ihres Kindes wird bestimmt sein vom Kampf um Arbeit, um Wohlstand und um Gesundheit. Es wird kein besseres Leben haben als Sie selbst, wahrscheinlich ein schlechteres. Es wird das Leben hassen. Natürlich können Sie es Anna ein bisschen leicher machen. Sie können ihr eine Wohnung oder Geld vererben. Und Sie können ihr immer wieder versichern, dass Sie sie lieben und dass ihr häufiges Scheitern nicht ihre persönliche Schuld ist, sondern systembedingt.

Deutschland wird in zwanzig Jahren immer noch ein relativ reiches Land sein. Doch in einer bis dahin völlig rationalisierten, fusionierten und globalisierten Marktwirtschaft werden weniger Menschen einen Platz finden. Den zu erobern, kostet heute schon viele so viel Kraft, dass sie nicht dazu kommen, Kinder aufzuziehen. Der Wettbewerb verschlingt seine Teilnehmer. Schleichend stirbt der Gedanke, die Welt ein Stückchen besser an die nächste Generation weiterzugeben oder sie zumindest zu bewahren. Kinder sind die Zukunft? Doch wie wird sie aussehen? Wohl kaum so hell und hoffnungsfroh, wie dieser Satz immer noch ausgesprochen wird. Haben die Eltern die Zukunft vielleicht schon verspielt?

Nadine Lange, 26, ist Journalistenschülerin und Hospitantin im taz mag. Sie findet Kinder wunderbar, kann sich aber nicht vorstellen, jemals welche zu haben