Werde ich etwa wie die?

Abgrenzung, weiß der Psychologe, ist ein ganz normales Mittel der Loslösung. Lösen muss und will sich jedes Kind von seinen Erzeugern. So wird es selbst erwachsen. Was lehrbuchmäßig souveränst analysiert werden kann, sieht im wahren Leben meist ganz anders aus und ist für die Beteiligten mit ambivalenten Gefühlen verbunden. Erfahrungswerte von Bernd Dörries

Jana hat es doch gewagt und Besuch nach Haus eingeladen, Thomas, ihren ersten Freund. Es ging einfach nicht anders: Neulich war der Zwölfjährigen beim Essen rausgerutscht, sie habe einen Freund. Ihre Mutter drohte prompt, auf ewig beleidigt zu sein, wenn sie ihn nicht bald zu Gesicht bekäme. Jana hat Thomas schon darauf vorbereitet, dass ihre Eltern eben „ein wenig anders sind“. Das hat sie schon vor Jahren bemerkt und von Freundinnen immer wieder bestätigt bekommen, die früher öfter zu Besuch kamen. „Körnerfresser“ nannten die ihre Alten und machten sich in der Klasse über sie lustig. Thomas weiß noch nicht viel von den seltsamen Sachen, die in ihrem Haus vor sich gehen, aber Jana hofft, er wird sie trotzdem genau so mögen, nachdem er dieses elterliche Schauspiel miterlebt hat.

Ihr Freund kennt noch nicht den Kühlschrank, der die Atmosphäre eines Uranlagers ausstrahlt, lauter braune Gläser aus dem Bioladen von dem Mann mit dem langen Bart. Alle nur erdenklichen Kulturen lagern darin, werden gehätschelt und gehören neben Jana gleichberechtigt zur Familie. Hier gibt es kein Eis oder Leckereien, die man den Freundinnen anbieten könnte. In der Kühlschranktür steht Kefir statt Cola. Wo in anderen Haushalten die Chocos von Kellog’s aufbewahrt werden, finden sich ballaststoffschwangere Verdauungsbeschleuniger, Hafer, Hirse und alle erdenklichen Körnersorten, die vom Vater in einer andächtigen Zeremonie gemahlen und zum Frühstück als Müsli gelöffelt werden. – Aber ihr Freund kommt ja Gott sei Dank zum Mittagessen. Spaghetti Bolognese wird es geben, das hat Jana nach langer Diskussion mit der Mutter durchgesetzt, für Thomas und sie mit Fleisch, für die vegetarischen Eltern mit Soja.

Es ist so weit. Thomas klingelt an der Tür, Jana spurtet zum Eingang und zieht ihn in ihr Zimmer, noch bevor Mutter und Vater reagieren können. Doch dann gibt es kein Entkommen mehr, Janas Mutter bittet zum Essen. Die vier plaudern ein wenig über die Schule und die Pläne für die kommenden Sommerferien, Thomas imponiert der Mutter, indem er das Geschirr abräumt. Jana will gerade zum „Wir gehen aufs Zimmer“ ansetzen, als ihre Mutter nach einer rohen Zwiebel greift, herzhaft hineinbeißt, den fragenden Blick von Thomas mit einem genuschelten „Das Essen war nicht so wertvoll“ beantwortet, nahtlos zu einem Referat über gesunde Ernährung im Allgemeinen ansetzt und dabei den Gast ins Visier nimmt. – Jana will wegrennen, nur noch allein sein, ist aber vor lauter Schreck wie an die Lehne des Stuhls gefesselt. Was wird Thomas von ihr denken? Wird er befürchten, sie werde früher oder später so wie ihre Mutter? Ist sie nicht bereits ein bisschen wie die, und alle anderen haben bislang geschwiegen, aus Höflichkeit?Etwas kauzige Eltern stellen die wohl zahlenmäßig größte Gruppe der peinlichen Erzeuger. Sie leben in einer Galaxie der Unlässigen, und ihre Umlaufbahn kreuzt sich nur alle Lichtjahre mit der ihrer Kinder. Dann kommt es meist zum großen Bang: Krach, Streit, beleidigte Gesichter, Lärm und Geschrei begleiten den Aufprall der fernen Welten. Beim Blick in die Gesichter der Außerirdischen offenbart sich die eigene Vergangenheit und Herkunft, gleichzeitig steigt die beklemmende Frage nach der Zukunft auf: „Werde ich so wie die?“

Stimmen von Großeltern, Tanten und Onkels schwirren durch den Kopf: „Ganz der Papa. Uijiuiui! Wie die Mama.“ – Welches Kind will schon werden wie die Eltern? Niemand will die Rolle seiner Eltern übernehmen, dem Remake des täglich laufenden „Bei uns im Wohnzimmer“ die Rolle seines Lebens widmen. Kinder möchten ihre eigenen Regisseure sein. Nichts ist ihnen peinlicher als die eigenen Eltern.

Und das muss auch so sein, sagt der Psychologe und Familientherapeut Arnold Retzer, der in seiner Praxis oft mit Fällen elterlicher Eigenheiten zu tun hat und die Fachzeitschrift Familiendynamik herausgibt: „Peinlichkeit ist ein normales Symptom und Mittel der Loslösung vom Elternhaus, die Kinder definieren sich über die Abgrenzung.“

Diese Einsicht kann schon recht früh kommen. Mit dem Eintritt in den Kindergarten, spätestens aber mit der Schule, wenn die gerade noch so niedlichen Kids merken, dass es da auch interessantere Menschen gibt als die zwei älteren nervenden Herrschaften zu Hause. Die neuen Bekanntschaften kann man sich selber aussuchen. Eltern jedoch sind einfach da, können weder frei noch geheim gewählt werden. Der Vorwurf der Peinlichkeit ist die Opposition der Kinder. Der Protest äußert sich vielfältig: Als Kind kann man widersprechen, ein bisschen zicken und bocken, die Gehörgänge auf Durchzug schalten oder einfach total verweigern, was dummerweise meist mit Taschengeldentzug endet.

Beliebtestes und gerade noch probates Mittel, seine peinliche Berührtheit kund zu tun, ist ein leichtes Anheben der Augenbrauen, gefolgt von einem zischenden „Tststs“, das nahtlos in ein „Ihr seid ja peinlich“ übergeht und mit dem Schwenken des Kopfes von der linken zur rechten Seite abschließt. Zu beachten ist hierbei, dass der Blick während des ganzen Vorgangs nicht auf die Eltern gerichtet ist; ein Fehler, den vor allem unerfahrene Kinder begehen. Vielmehr müssen die Augen zeitgleich mit dem Schütteln des Kopfes verdreht werden. Profis können die Glubscher auch in entgegengesetzten Richtungen kreisen lassen.

Auch Ralf spielte mit der Augenbrauenorgel, als seine Mutter ihn wieder einmal im Kreis seiner Kumpels kompromittierte. Mit seinen Freunden aus der siebten Klasse war der Dreizehnjährige auf eine Skifreizeit ins Allgäu gefahren. Mutti Hannelore war mitgekommen und hatte die Organisation an sich gerissen: Sie konnte ihren Jüngsten nicht einfach so ziehen lassen. Da saßen sie also beim Abendessen in der Hütte, es gab Schnitzel mit Pommes, denn die Hannelore weiß, was Kindern schmeckt. Sie schwang sich neben ihren Ralfi, trällerte im Dialekt der Bergschwaben: „Ey Ralfi, soll i dir dei Schnitzel schneida?“ und machte sich an die Arbeit. Ralf ließ also die Augenbrauen sausen und schaute in die Runde der Freunde, sodass jeder seine Wertung registrierte.

Hannelore gehört zu jener Spezies der Erziehungsberechtigten, die sich durch übertriebenes Engagement negativ bemerkbar machen. Anstatt nur durch ihr kauziges Benehmen aufzufallen, drängen sie ins Privatleben ihres Nachwuchses: die Mutter, die beim Besuch ständig ins Kinderzimmer stürmt, Butterbrote schmiert, die Gäste mit Fragen löchert, sich womöglich noch dazugesellt und intime Details aus dem Leben ihres Sprösslings verplaudert: „Ja damals machte er noch ins Bett, auf dem ihr jetzt sitzt, aber heute ist er ja so erwachsen, nicht?“, bekam Ralf schon zu hören.

Väter hingegen leiden oft unter ihren eigenen sportlichen Defiziten. Nun sollen es die Kinder besser machen. Sie schicken ihre Söhne schon früh zum Fußball und rennen dann bei jedem Spiel, ja selbst beim Training an der Seitenlinie auf und ab, führen sich auf wie die Trainer, die sie von den Bundesligaspielen aus dem Fernsehen kennen. Die Ursache für dieses Fehlverhalten ist einfach: Für viele Eltern beginnt mit der Geburt der Kinder ein neuer Lebensabschnitt. Sie suchen sich im Umfeld ihrer Kids einen neuen Raum zur Betätigung. „Zum Besten des Kindes“ versteht sich, aber vielen fehlt es einfach an alternativen Ideen für die eigene Freizeitgestaltung. Erinnert sei an all die Mütter und Väter, die ihren Nachwuchs mit dem Eintritt in den Kindergarten bis zum Ende der Schulzeit in Elternvertretungen begleiten. Gewerkschaftsfunktionären ähnlich, drängt es sie ständig nach neuen Posten: Elternbeirat, Elternbeiratsvorsitzende, Landeselternbeirat. Die Kinder schauen machtlos zu.

Am allerallerschlimmsten sind aber die Berufsjugendlichen, die sich alle Mühe der Welt geben, bloß nicht peinlich zu wirken. Sie kleiden sich nach dem neuesten Stand, hören die angesagte Musik und wollen mit ihren Sprösslingen womöglich ins Kino gehen. Oft von der Peinlichkeit ihrer eigenen Eltern gezeichnet, sind diese Väter und Mütter die hartnäckigsten Fälle.

Wie sich zeigt, können Eltern eigentlich machen, was sie wollen, sie wirken immer peinlich. Selbst Kinder, die keine konkrete Marotte ihrer Erzeuger nennen können, hegen ein gesundes Misstrauen und sind überzeugt, dass die in allen Eltern genetisch latent vorhandene Peinlichkeit irgendwann zum Ausbruch kommt. Trost finden Väter und Mütter nur in der Aussicht, dass ihre Bälger irgendwann erwachsen werden und ihre eigene Identität finden, die nicht allein von der Abgrenzung lebt. „Das Gefühl der Peinlichkeit gegenüber den Eltern lässt nach, wenn die Loslösung vom Elternhaus vollzogen ist“, macht Psychologe Retzer Hoffnung. Er weiß sogar von der „Peinlichkeit zweiten Grades“ zu berichten. Die tritt auf, wenn die mittlerweile erwachsenen Kinder ihr eigenes selbstgerechtes, oft verletzendes Verhalten der Kindheit und Jugend kritisch betrachten, und – wer hätte das gedacht – selbst peinlich finden. Bald darauf bekommen sie Kinder und werden von Opfern zu Tätern. Der Kreis schließt sich. – Wem das Zuwarten über diesen Lebenszyklus zu lange erscheint, dem sei gesagt, dass selbst der Psychologe und Vater Retzer nicht vor Peinlichkeit gefeit ist. Preisgeben will er sie nicht: „Das wäre ja peinlich.“

Bernd Dörries, 25, studiert in Berlin Politikwissenschaft und empfand seine Eltern früher oft als peinlich, was er mittlerweile bereut