1999: Aufsteiger und Aussteiger - Die Hits und Nieten des Jahres

Und fünfe gingen zum Regenbogen: Es war nicht allein der Nato-Krieg gegen Serbien, der im Mai die Grün-Alternative Liste spaltete. Auch viel spezifisch Hamburger Frust war mit im Spiel, als fünf Bürgerschaftsabgeordnete die GAL verließen. Seitdem sitzen Norbert Hackbusch, Julia Koppke, Heike Sudmann, Susanne Uhl und Lutz Jobs (Foto v.l.n.r.) als Regenbogen-Gruppe auf den Hinterbänken des Landesparlaments und versuchen, von links ihre früheren Parteifreunde wahlweise anzustacheln oder vorzuführen.

Von Feindschaften kann abseits politischer Schaukämpfe im Parlament aber keine Rede sein. GAL und Regenbogen haben ihre Rathaus-Büros auf dem selben Flur und teilen sich friedlich-schiedlich Kopierer und Klo, Kühlschrank und Kaffeemaschine. Größere Zerwürfnisse über den Abwaschdienst wurden bislang nicht ruchbar.

In keinem anderen deutschen Landesverband war die Reaktion auf den Abschied vom grünen Pazifismus so heftig und einschneidend wie in der GAL. Eine Ursache liegt in ihrer Entstehungsgeschichte im linksalternativen und intellektuell-urbanen Milieu, das schon zur Grüppchen- und Flügelbildung sowie zu gegenseitigen „Spalter!“-Rufen neigte, als es den GAL-Vorgänger Grün-Bunt-Alternative Lis-te noch gar nicht gab. Der zweite Grund liegt in der Enttäuschung über die realexistierende Sozial-, MigrantInnen-, Umwelt- und Standortpolitik der rot-grünen Rathauskoalition.

Ob der Regenbogen, unter dem auch etliche Mandats- und FunktionsträgerInnen aus den Bezirken ein politisches Exil fanden, die nächste Bürgerschaftswahl 2001 überleben wird, ist noch völlig offen. smv

Seit 1. Juni ist Dorothee Bittscheidt Hamburgs erste Hochschul-Präsidentin. An der Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP) trat sie die Nachfolge von Lothar Zechlin an. Die 56-jährige promovierte Sozialwissenschaftlerin ist in Praxis wie Theorie erfahren: Elf Jahre lang arbeitete sie in Forschung und Lehre, war dann von 1980 bis 1993 zunächst Chefin des Amtes für Jugend, später leitete sie das Amt für Soziales und wirkte daran mit, dass geschlossene Heime in Hamburg abgeschafft werden. 1993 ging Dorothee Bittscheidt für vier Jahre als Staatssekretärin nach Bonn. Ihr Motto: „Aus Zweifeln am Gewohnten lässt sich produktive Kraft ziehen.“ san

Es besteht die Chance, dass die taz nie wieder Amtsrichter Ronald Schill in ihrer Jahreschronik verewigen muss. Ab jetzt wird er nicht länger in Strafprozessen richten, sondern über Geld-und Nachbarschaftsstreitigkeiten entscheiden. Das Präsidium des Amtsgerichtes hat ihn im neuen Geschäftsverteilungsplan ans Zivilgericht verpflanzt. Zwar wird ihn das kaum davon abhalten, weiterhin in Talkshows Gefängnis schon für 12jährige und die Abschaffung des Asylrechts zu fordern sowie sich anzumaßen, über schwebende Gerichtsverfahren im Boulevard-TV Urteile zu fällen. Immerhin kann Schill seine politischen Träume nicht länger an einzelnen Angeklagten exekutieren. ee

Der Ausdruck ist selten abgegriffen, aber bei dem Hamburger Kaufmann Helmut Hofer passt er: Es war ein Jahr zwischen Hoffen und Bangen. Todesstrafe oder Freiheit – diese Aussichten änderten sich bei dem im Iran einsitzenden Hofer zuweilen täglich. Der Geschäftsmann, angeklagt, sexuelle Beziehungen zu einer Muslimin im Iran gehabt zu haben, wartet immer noch darauf, nach Deutschland zurückkehren zu können. Die Todesstrafe scheint zwar vom Tisch, auch weil die Bundesregierung massiv Einfluss auf den Handelspartner Iran ausübte, aber nun wartet ein Verfahren wegen Angriffs auf einen Sicherheitsbeamten auf ihn. Das kann dauern. aha

Sie brauchte nur 70 Tage, um sich zu profilieren. Nach wochenlangem Hickhack in der SPD-GAL-Koalition wurde Ursula Neumann am 1. September Hamburgs Ausländerbeauftragte. Am 9. November hatte sie ihren ersten großen Auftritt: Als Leiterin der Bundestagung der deutschen Ausländerbeauftragten initiierte die Pädagogik-Professorin den „Hamburger Appell“, der deutliche Kritik an der Ausländerpolitik der Bundesregierung äußerte und eine „sichere Zukunftsperspektive“ für MigrantInnen forderte. Das allein ist schon mehr, als ihr Vorgänger, SPD-Ex-Senator Günter Apel, in sieben Jahren zustandegebracht hatte. Weiter so. smv

Der Mann bringt alles mit, was ein guter Verfassungsrichter braucht: Er ist wissenschaftlich hoch reputiert, politisch erfahren und gilt als absolut integer. Am 26. November wurde Wolfgang Hoffmann-Riem vom Bundesrat ans Verfassungsgericht in Karlsruhe berufen. Der 55-jährige Hamburger Rechtsprofessor ist parteilos, war für die Statt Partei zwei Jahre lang Justizsenator in der Hansestadt und widersprach als einziges Regierungsmitglied dem Null-Toleranz-Schwachsinn des damaligen Bürgermeisters Henning Vosche-rau. Hoffman-Riem ist eben unzweifelhaft ein Liberaler im Wortsinn. Kann unserer Verfassung ja nur gut tun. smv

Klar und deutlich ist die Aussprache von Safwan Eid. Dennoch stand er wegen angeblich zweideutiger Wortwahl vor Gericht. 1997 hatten Lübecker Richter Eid von dem Vorwurf freigesprochen, im Januar 1996 das Flüchtlingsheim in der Lübecker Hafenstraße angezündet zu haben. Der Bundesgerichtshof indes mutmaßte, Tonbänder mit in der Untersuchungshaft abgehörten Gesprächen Eids könnten Belastendes enthalten, und forderte einen neuen Prozess. Die Übersetzung der Protokolle vor dem Kieler Landgericht nährte allerdings eher Zweifel an der Kompetenz des damaligen Dolmetschers als an der Unschuld von Eid. Freispruch im Oktober – diesmal endgültig. ee

Er ist der perfekte Spieler für den Fußball der 90er Jahre: Rodolfo Esteban Cardoso. Der Argentinier verbindet Effektivität mit Eleganz. Ihn zeichnen der kämpferische Einsatz in der Defensive ebenso aus wie seine einfachen, aber genialen Pässe in die Spitze. Der Hamburger SV steht zur Winterpause ziemlich weit oben in der Bundesligatabelle. Das verdanken die Rothosen in ers-ter Linie dem Mann, den sie gar nicht haben wollten. Zu Beginn der Saison sollte der 31-Jährige noch aussortiert werden, inzwischen ist er im Mittelfeld der Mannschaft unverzichtbar geworden. Er bereitete die meisten Tore vor und schoss selbst fünf. Der HSV hat wieder einen Star. else

Früher war sie das Silberfischchen, inzwischen wurde sie zum Goldköpfchen. Im Dezember wurde Sandra Völker in Lissabon Kurzbahn-Europameisterin über 50-Meter Rückenschwimmen. Es war bereits ihr 50. internationaler Titel. Schon im April gewann die Hamburgerin die Weltmeisterschaft in der gleichen Disziplin. Ihre ewige Rivalin Franziska van Almsick hat sie längst baden geschickt. „Ich habe in diesem Jahr viel mehr erreicht, als ich mir vorgenommen habe“, sagt sie. Die Erfolge sollten Motivation genug sein für die Olympischen Spiele im kommenden Jahr in Sydney. Auf dass Völker nächstes Silvester wieder in diesem Rückblick auftaucht. else

Dass in der Stadt alle durchknallen, weil Hamburg in Wirklichkeit von Außerirdischen regiert wird, ist eine oft gehörte These in dieser Stadt. Dem Beweis ist man 1999 ein erhebliches Stück näher gerückt. Dicke Findlinge fangen an, Zeitungsartikel über ihre eigene Befindlichkeit und die Bosheit der Menschen zu verfassen – im Oktober an der Elbe und im Abendblatt. Millionen Maden verlangen in Nachttankstellen Chips und ein Sixpack – im August in Jenfeld. Radiomoderatoren verbarrikadieren sich in Studios und spielen stundenlang Musik, die auf diesem Planeten wirklich keiner mehr hören mag („No milk today“) – im Juli bei Radio FunFun. Menschen ziehen sich hässliche Brillen an und starren in den Himmel (!) – im August überall. Tausende halten sich stundenlang in „dem Fundort der Bombe abgewandten Teil ihrer Wohnung“ auf und frönen Untergangsvisionen – im Oktober in St. Pauli. Und eine kurze Hose in der Bürgerschaft wird zum Stadtgespräch erhoben – im September im Rathaus. Die Jahr-2000-Apokalyptiker scheinen Recht zu behalten.

aha / Foto: Henning Scholz

Dass die neue Kampnagel-Leitung ab der Spielzeit 2001/2002 weiblich sein würde, galt als ziemlich gesichert. Mit der Berufung von Gordana Vnuk gelang der Kulturbehörde trotzdem noch eine Überraschung. Ohne dass vorher etwas durchgesickert war, präsentierte sich am 1. Oktober die 43-jährige Kroatin der Presse, und zwar als eine in Theaterdingen kompromisslose Frau. Die erfahrene Festivalleiterin (Eurokazz/Zagreb seit 1987) und Kulturzentrumschefin (Chapter Arts Centre/Cardiff seit 1996) erscheint als Idealbesetzung für Kampnagel. Publikumsanbiederung und Marktkompatibilität liegen ihr fern; so könnte sich Hamburg bald auf der vollen Höhe des Diskurses in Sachen performing arts wieder finden. poe

Diese lässig um den Hals gewickelten Pullover, die macht ihm niemand so leicht nach. Aber dass das noch was werden sollte mit der dritten Blumfeld-Platte, hat man nicht immer geglaubt, wenn Jochen Distelmeyer einem nachts irgendwo erzählte, er hätte in den vergangenen Wochen nur gearbeitet. An einen halben Songtitel etwa – oder endlich mal Robert Johnson und Richard Sennet zusammengedacht. Dann aber doch: eine ganz große Idee von Pop, von Liebe, von Song, die musikalisch so fraktionsübergreifend begeisterte, wie man die Idee vielleicht etwas vorschnell verabschiedet hatte. Selbst meine Mutter mochte das. Nicht, weil sie im Video Helmut Berger erkannte. Sondern weil der junge Mann eine so ordentliche Frisur trägt. tob