Die letzten 10 Tage
: Rechteckig kiffen

Der Wecker tickt, der Bäcker beendet den Krieg, ein paar Satzfetzen fliegen vorbei

Die Journalisten tun ihre Pflicht zur Herstellung von Öffentlichkeit, sagt Wolfgang Thierse, und der Bäcker findet es angesichts der vielen Katastrophen und Kriege verwerflich, den Jahreswechsel zu feiern. „Man muss doch was dagegen machen.“ Ich stimme ihm zu, dann kommt der nächste Kunde, und ich gehe wieder.

Unsere Gespräche entwickeln sich langsam, in Fetzen, über Tage. Manchmal wiederholen sie sich fast wortgleich, manchmal bleiben sie hinter dem Stand des Vortags zurück, manchmal variieren sie auch wie der Kuchen, den ich kaufe und dann bei den Simpsons esse. Vielleicht ist er Mitglied einer revolutionären Partei und fragt mich irgendwann, ob ich nicht auch Lust hätte, da mitzumachen.

„1. Mai 1999 Oranienplatz: Kapitalismus abschaffen!“ steht immer noch am Haus gegenüber der Markthalle am Marheinekeplatz. Allmählich wird mir doch ein bisschen feierlich, und ich möchte gerne was Teures zu essen kaufen. Roastbeef und so. Bei Fisch-Dogan kosten die Krabben mit Knoblauch nach Hausrezept über fünf Mark 100 Gramm. Auch der holländische Matjes ist prima teuer. Wie schön und freundlich Herr und Frau Dogan doch aussehen!

Satzfetzen fliegen vorbei. Ein Mann mit Schnurrbart sagt, wie ihm ein türkischer Junge vorhin einen Knaller vor die Füße geworfen hat: „Und da hab ich gedacht, wenn du mein Kind wärst, würdest du nur Prügel kriegen. Tag und Nacht.“

Am Imbiss steht der Hausmeisterassistent vom Nebenhaus in seinem ewigen Parka. Sein Freund, der Haupthausmeister, ist ein proletarischer Ex-Hippie, Mitte vierzig, mit ergrauten halblangen Locken und immer im Blaumann mit Holzfällerhemd. Der Nebenhausmeister ist ein Frührentner mit Zigarette und leicht verwüstetem Gesicht. Er steht fast immer am Imbiß mit Bier, wenn ich in die Markthalle gehe. Das ist so sein Kumpelnest. Er ist, glaube ich, ein stiller Trinker und verlässt seinen „Kiez“ nur in Ausnahmefällen.

Wir kennen uns seit sechs Jahren vom Sehen. Zunächst hatte ich ihn für einen Blockwart gehalten. Seit anderthalb Jahren grüßen wir uns lächelnd, vor einem Jahr hatten wir das erste Mal vorsichtig miteinander gesprochen, als wir uns abends zufällig auf der Straße begegnet waren. Weil ich am Nachmittag einen Haschkeks gegessen hatte, war ich eigentlich eher paranoid gestimmt, als ich ihn sah. Und er war wohl leicht betrunken. Überraschenderweise hatte sich das aufs angenehmste ergänzt.

Katrin erzählte auf der Straße, dass es in ihrem Treppenhaus überall nach Hasch riechen würde: Haschorgien auf jeder Etage. Hier riecht es eher nach Kohlen. In der AGB schenkte jemand einem Mitarbeiter eine kleine Tafel Schokolade.

Die Wohnung des Oberkiffers war wie gewöhnlich extrem aufgeräumt. Wenn er irgendwann mal verkommen sollte, dann nur rechteckig. Begeistert erzählte er von dem Tausendmarkfeuerwerk, das er abbrennen will, und erklärte mir alles. Man hatte ihn sozusagen als Feuerwerks-DJ in Westdeutschland gebucht. Dann schenkte er mir einen alten Wecker. Ich hatte lange kein Ticken mehr in meiner Umgebung gehört und entdecke nun ein Geräusch wieder, das mich lange Zeit begleitet hatte. Das Ticken des Weckers ist schön, und jeder Normale wünscht sich vielleicht nicht, dass es Flugzeuge regnet, aber doch, dass ab 12 der Strom möglichst lange ausfällt. Detlef Kuhlbrodt