Hey, Mister Bürgerkrieg

Silvester im Taxi: Draußen explodieren die Querschläger in bunten Farben, ältere Damen werfen sich zu Boden und werden mit Raketen beschossen ■ Von Falko Hennig

Warum es gerade für Studenten jemals attraktiv war, einen Taxischein zu haben und diesem Gewerbe nachzugehen, ist eines der großen Rätsel Berlins. Aber auch mir war es sehr verlockend erschienen, diese großen Mercedes-Wagen, Unabhängigkeit, Sonnenbrille auf und Arm aus dem Fenster, die Busspuren entlang rasen und auf die Regierung schimpfen, was immer ich an Träumen hatte.

Die Prüfung zum P-Schein, das Lernen davor, eine Knüppelei, sicher vergleichbar mit gewissen anatomischen Prüfungen im Medizinstudium, in der man auch noch die abgelegensten und überflüssigsten Organe mit ihrem lateinischen Namen kennen muss. Diese ganzen Senatskanzleien, von und zu denen niemals Taxis irgendwohin fahren. Rekordgeschichten machten bei den Taxischülern die Runde: Jemand hatte es in drei Monaten Lernen geschafft, andere, und die saßen mit uns in der Gruppe, versuchten es seit Jahren.

Männer und Frauen mit blutenden Platzwunden

Ich blieb im Mittelfeld, ein Jahr lernen, einen Monat nur noch lernen, dann hatte ich den ersten Teil der Prüfung bestanden, beim zweiten fiel ich knapp durch, bestand den dann aber auch in der Wiederholung

Wem das Taxifahren vorschwebt, der sollte sich die Fakten vor Augen halten: Taxifahrer verdienen schlecht, knapp über fünf Mark ist oft genug der Stundenertrag tagsüber, in der Werknacht noch unter 15 Mark, auch in der Nacht am Wochenende fast immer unter, manchmal knapp über 20 Mark. Wohlgemerkt mit Trinkgeldern und Schwarzfahrten. Wie stark der Regierungsumzug die Situation verbessert hat, kann jeder leicht durch die journalistisch verpönten Gespräche mit dem Taxifahrer recherchieren.

Wer sich auf das Nachtfahren in den lohnenden Nächten einlässt, muss aber auch das Ersterben vieler Formen des sozialen Lebens in seiner Rechnung berücksichtigen. Denn auf die 20 Mark pro Stunde kann man nur in den Nächten zu Samstag und Sonntag kommen, genau dann, wenn eine der wenigen Geburtstagsfeiern oder Hochzeiten stattfindet, zu denen man noch eingeladen wird.

Die Silvesternacht bildete für mich immer eine Ausnahme, diese Nacht ist auch eine Ausnahme, es ist die Taxinacht. Ich fand es nie reizvoll, im Familien- oder Freundeskreis das unerträgliche Fernsehprogramm zu konsumieren, zu denen sich die Sender aus unerklärlichen Gründen zum Jahreswechsel genötigt fühlen, diese Riesenballetts und von der Decke schwebenden Luftballons, diese Sketche von Harald und Eddi, Didi Hallervorden. Nein, dann doch lieber etwas Sinnvolles tun: Taxi fahren. Ich machte das viele Jahre in der Silvesternacht, kümmerte mich nicht um die mitfühlenden Fragen der Passagiere: „Ach, Sie Ärmster! In einer solchen Nacht müssen Sie fahren!“

Schon in den Abendstunden zwischen 7 und 8 Uhr abends ist klar, es ist etwas Besonderes. Die Knallerei, die mit der Zeit wie das gleichmäßige Grollen an der Vergnügungsfront scheint, kurze Wartezeiten, jeder muss irgendwohin, zur Familie, zu Freunden, zu einer offiziellen Feier. So bleibt es, während die Zeit fortschreitet, die Passagiere geben sich den Türgriff in die Hand.

Die Silvesternacht ist Bürgerkrieg. Das ist keine Übertreibung, hinten in meinem Wagen saßen die Männer und Frauen mit den blutenden Platzwunden an den Köpfen, die ich zum Urban-Krankenhaus fahren musste, bei eingeschalteter Taxiuhr natürlich. Dann am Taxistand Zossener Straße werden die aus dem U-Bahn-Aufgang heraufkommenden älteren Damen und Herren mit Raketen beschossen, werfen sich platt auf die schneenassen Treppenstufen, die Knallkörper pfeifen mit funkendem Feuerschweif über sie hinweg, schlagen gegen die Wände, explodieren in bunten Farben als Querschläger. Besonders schlimm erschien mir die Oranienstraße, ob die Menge dort besonders aufgeputscht war, ob sie in meinem leuchtenden Taxischild ein Symbol der verhassten Staatsmacht erblickten, jedenfalls knallten die Silvesterraketen von allen Seiten gegen Dach, Fenster und Frontscheibe. Ein Alptraum, ginge hier ein Reifen kaputt, unmöglich, ihn in diesem Beschuss von allen Seiten zu wechseln.

Dann, kurz vor Mitternacht, tritt eine unnatürliche Ruhe ein, so wie die Windstille vor dem Wolkenbruch. „Prost Neujahr!“ hört man im Taxifunk, aber sonst bleibt es ruhig. Klar, noch stoßen die Leute an. Dann beginnt es, Bestellung um Bestellung. Schon reißt jemand die Tür auf und will nach Wedding, die Funkzentrale gibt es auf, die leeren Taxihaltestellen anzusprechen, die Adressen werden abgelesen, aber kein Fahrer kann etwas zusagen. Das gibt es wirklich nur in der Silvesternacht: In ganz Berlin sind alle Taxis besetzt.

Und so bleibt es, an jeder Ecke Gruppen von winkenden Fahrgästen, die im Laufschritt auf die besetzten Taxis zustürzen, wenn die auch nur langsamer werden vor den roten Ampeln. Die ganze Stadt scheint sich verschworen zu haben, keine gelbe Taxileuchte für längere Zeit strahlen zu lassen. „Wissen Sie, wie lange wir auf ein Taxi warten mussten?“ Ich weiß es nicht, den Funk habe ich schon vor Stunden ausgeschaltet, stattdessen ertönt Ernst Busch aus dem Kassettenradio.

Am Neujahrsmorgen ist es eigentlich immer dasselbe: Die Fahrgäste werden wortkarger in den Morgenstunden, dösen nach dem üblichen „Prost Neujahr!“ vor sich hin.

Die ganze Stadt hatsich verschworen

Der Morgen graut und gibt die von Müll bedeckten Straßen und Bürgersteige preis, ein wenig erinnern die papierenen Knallhülsen, Etiketten und Papierschlangen an Laub, das völlig überraschend von fantastischen Bäumen gefallen ist. Irgendwann bilden sich dann wieder Schlangen aus Taxis an den Halteständen, ein Kollege ruft durch den Funk: „Der Haltestand soll sein wie der Fahrgast: Nicht zu voll!“ Die Morgenschicht stößt dazu, Zeit für den Feierabend. Etwas Katerstimmung beim Geldzählen: Immerhin, viel mehr als sonst, fast 800 Mark. Doch nach der Abrechnung ist klar, es sind 31 Mark pro Stunde, die mir bleiben. Schon in Ordnung.

Warum ich nicht mehr die Silvesternacht ins neue Jahr fahre? Das Ganze endete für mich sehr trivial, beim Fußball klaute jemand meine Brieftasche samt Taxischein aus der Umziehkabine. Das normale Fahren hatte ich wegen der finanziellen Trostlosigkeit aufgegeben, jetzt vor der Wahl, mir für diese eine Silvesternacht den 80 Mark teuren P-Schein neu ausstellen zu lassen, konnte ich mich dazu nicht entschließen. Aber vielleicht mache ich das noch.