Die Renner des Jahres

■ Eberhard Diepgen gab sich gleich zu Jahresbeginn fit wie ein Turnschuh. Und gab so das Tempo für 1999 vor: Alle anderen durften hinterhertraben

Der Renner des Jahres

Der Regierende Bürgemeister Eberhard Diepgen hatte ein Problem. Er hatte alles, nur keinen jugendlichen Charme. So verpassten ihm seine Berater ein neues Image: Fit wie ein Turnschuh. Schnell wurde die gerade ausgesprochen erfolgreich durch die Kinos joggende Lola kopiert. Zwar wurde der Dauerbürgermeister außer auf den poppigen Plakaten nie im Spurt gesichtet. Dennoch hängte er mühelos sämtliche Konkurrenten ab. Renner des Jahres wurde er aber nicht. Diepgens CDU bekam bei den Wahlen am 10. Oktober gerade mal 637.311 Stimmen. Das ist gar nichts gegen die knapp 2 Millionen Besucher, die die erst im April eröffnete Reichstagskuppel bisher erstürmten.

Leerläufer

Das Haus ist voll, aber nicht mit Kunstwerken und Sammlungen. Seit der Fertigstellung drängen Besucher durch den leeren Libeskind-Bau, das Jüdische Museum. Und sie müssen es noch lange tun. Leer blieb es 1999, leer bleibt es 2000 und leer bis Ende 2001. Dann erst soll eröffnet werden. Wenn die Klimaanlage funktioniert.

Durchstarter

Zwei, die in den Startlöchern standen, mussten lange zittern, ob sie überhaupt eine Startgenehmigung erhalten. Doch dann konnten Peter Strieder (SPD) und Peter Kurth (CDU) doch noch durchstarten. Strieder ging aus dem innerparteilichen Postengerangel als Supersenator für Bauen/Stadtentwicklung/Umwelt und Verkehr hervor. Peter Kurth, der sich als Finanzstaatssekretär schon vier Jahre warmgelaufen hat, trat die Nachfolge von SPD-Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing an. Der distinguierte frühere Bankangestellte soll den Sparkurs weiter fortsetzen. Keine leichte Aufgabe, auch nicht für einen Hobby-Langstreckenläufer.

Eierläufer

Der wohl bekannteste Scheintote der Stadt, der Aktionspolitologe Dieter Kunzelmann, tauchte im Juni überraschend wieder auf, nachdem er sich mit einer Todesanzeige aus dem Leben gestohlen hatte. Bei seiner Wiederauferstehung platzte er, irgendwie Osternmäßig, aus einem Ei. Doch das Spektakel lief nicht spurlos an ihm vorbei: Seit seinem 60. Geburtstag am 14. Juli sitzt er nun eine elfmonatige Haftstrafe wegen zwei Eierwürfen auf den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) ab. Der ist offenbar kein Eierfreund, zumindest aber humorlos. Im Gegensatz zu Kunzelmann. Als der im Knast in Tegel eintraf, hinterließ er vor den Gefängnistoren eine Kiste Eier.

Überrundet

Mit der SPD-Urwahl zur Spitzenkandidatur tauchte Walter Momper aus der Versenkung auf. Doch so richtig in Fahrt kam der Mann nicht. Im Wahlkampf blies ihm kräftiger Gegenwind ins Gesicht. Zum Auslaufmodell wurde er dennoch nicht: Als Ehrenpreis für seine Anstrengungen im Wahlkampf erhielt er den Posten des Parlamentsvizepräsidenten. Einen Berliner Traditionslauf will er als einer der wenigen Promis mit einem Aktionsbündnis auch noch gewinnen: den Kampf gegen ein Wahlpflichtfach Religion.

Abgehängt

Vier Jahre lang rannte sie ganz vorne mit, Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing, die Frontfrau der Sozialdemokraten. Im Wahlkampf lief sie mit Momper, Strieder und Böger in einer Viererformation, die im SPD-Jargon Quadriga hieß. Doch trotz Bestleistung wurde sie abgehängt, weil ihr die Genossen nach der Ziellinie ein Bein stellten. Geschlagen gibt sie sich aber nicht: Die 44-Jährige las den Genossen beim Parteitag die Leviten. Als Abgeordnete wird sie den Vorsitz des Wissenschaftsausschusses übernehmen.

Blasen gelaufen

Der grosse Zampano des Deutschen Historischen Museums, Christoph Stölzl lief sich die Hacken ab: vergeblich. Als Präsident der Stiftung Preussischer Kulturbesitz kam ihm Dieter Lehmann zuvor. Staatsminister Michael Naumann blockte ebenfalls. Als Kultursenator sitzt jetzt Christa Thoben im Sattel. Jetzt leckt Stölzl als Feuilleton-Chef der Tageszeitung Die Welt seine Wunden.

Schauläufer

Mit „Shoppen und Ficken“ (Thomas Ostermeier) und avantgardistischen Choreographien (Sasha Waltz) machten die beiden Jungstars auf den Berliner Bühnen Furore. Jetzt sollen sie das neue Ensemble der Schaubühne zur Konkurrenz des Berliner Ensembles werden lassen. Ostermeier sagte schon mal, wo es langgeht. Claus Peymann ist grufty.

Verrannt

Der CDU-Abgeordnete Ekkehard Wruck zog mit Bibelzitaten in den Wahlkampf, die bei seinen Parteikollegen nur Kopfschütteln auslösten. Sein Plakat „Die Wurzel trägt dich“, wurde kurzerhand überklebt. Bühnenreif war auch der Abgang des eigenwilligen Diepgen-Gegners. Kurz vor Weihnachten erklärte er in einem Brief, der mit lateinischen Bibelsprüchen gespickt war, seinen Parteiaustritt. Im neuen Jahr geht die Posse weiter: Wruck soll sein Mandat zurückgeben, doch er weigert sich. Ein Parteiaustritt ist der sichere Weg ins Abseits. Das erfuhren auch zwei Grüne: die Ex-Abgeordnete Ida Schillen (jetzt: Demokratische Liste) und Ex-Vorstandssprecherin Birgit Daiber (jetzt: PDS). Prognose für 2000: nicht einmal Außenseiterchancen.

Fehlstarter

Die Hochtief-Manager fühlten sich als sichere Sieger. Sie hatten schon die Goldmedaille um den Hals. Denn der Zuschlag zum Bau des Großflughafens war ihrer. Dann kamen böse Schieds-Richter aus einer Kleinstadt an der Havel dahergelaufen und stürzten die Manager vom Treppchen. Die abgehetzten Veranstalter vom Senat waren bass entsetzt, blieben aber, weil die Welt ungerecht ist, im Rennen. Immerhin müssen sie jetzt den Lauf wiederholen – wahrscheinlich ohne die Sieger aus dem ersten Lauf. Disqualifiziert!

Frühstarter

Einer konnte gar nicht früh genug aus den Startlöchern kommen: Günter Biere, Chef des Kaufhofes am Alex, wollte das Ende des Ladenschlussgesetzes nicht abwarten. An mehreren Sonntagen organisierte er einen Massenauflauf am Alex – Konsumwütige stürmten sein Haus. Die Gewerbeaufsicht fand es unsportlich, Staubsauger per Aufkleber als „Berlin-Souvenir“ zu verkaufen. Immerhin: Die Abstimmung mit den Füßen hat Biere gewonnen. Aber vor der Ziellinie warten schon die Priester.

Mitläufer

Jetzt war man gerade mal fit im Erklären, was ein Bagel ist, da schleuderten die Picknicker heuer Italienisches aufs Tischtuch. Inzwischen befindet sich jeder Brotkorb ohne Toskana-Semmel längst im gesellschaftlichen Nirwana. Karstadt – immer wieder Vorreiter in Sachen Trendgebäck – bietet ein Oliven- oder teureres Nuss-Modell an. Achtung: C. ist nicht zu verwechseln mit Regatta, Ciao-Mofa oder Civitavecchia.

Obligat geworden ist auch der Taschengürtel: Was schon Tokio-Girlies um die Hüften schlenkert, hat sich die Designerin Lindy Stokes in Berlin ausgedacht. Tütensuppe, Tampon, Lippenstift – hier bringt die Szenefrau alles unter und hat die Hände frei fürs Handy am Ohr. Dank H&M-Kopien löste der„pocket-belt“ den ungeliebten Stachelrucksack ab .

Auslaufmodell

Die Industrie in Berlin ist ein Auslaufmodell. Das merkten auch die Arbeiter des Alcatel-Kabelwerkes, die ihre Arbeit verlieren sollten. Sie machten als Besetzer aus der Werk- eine Turnhalle: immer schön um die Tischtennisplatte herum. Leerlauf nur für die Maschinen. Und sie liefen sich die Hacken ab, marschierten und demonstrierten in Paris beim Konzernvorstand: Doch die ganzeSchwitzerei, alles umsonst – Turnschuhträger haben eben in der Chefetage nichts zu suchen. So ist wohl der Lauf der Welt. Doch sie bleiben mehr als zweite Sieger.

Auf der Strecke geblieben

Das einschneidendste Ereignis des Jahres war das Blutbad im israelischen Generalkonsulat am 17. Februar. Israelische Wachschützer schossen auf Kurden, die aus Protest gegen die Öcalan-Verhaftung in das Gebäude stürmten. Vier Kurden starben. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss stellte fest: Die Berliner Polizei und Innensenator Eckart Werthebach (CDU) haben beim Schutz des Generalkonsulats versagt. Zudem wurde ein Aktenstück, das Werthebach belastete, von einem seiner Untergebenen vernichtet. Auf der Strecke bleiben auch die Ermittlungsbehörden: Wegen der diplomatischen Immunität der israelischen Wachleute konnten oder wollten sie nicht gegen die beiden Todesschützen vorgehen.

Unter „ferner liefen“

Erstmals lief in diesem Jahr für die Kreuzberger Spaßpartei „Kreuzberger Patriotische Demokraten/Realistisches Zentrum“ ein Abgeordneter in die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) ein. Seitdem sitzt der CDU die Angst im Nacken, die parteilose Nanette Fleig könnte aus der BVV Kreuzberg ein Kaspertheater machen. Eine völlig unbegründete Befürchtung. Die 30-Jährige will keinesfalls als Jeck auflaufen, sondern ganz realpolitisch die Zeppelin-Industrie in Kreuzberg ankurbeln und sich für Parken in der dritten Reihe stark machen. Auch Gemüsehändler dürfen sich freuen, ist die KPD/RZ doch für ihren hohen Grünzeugverbrauch bei Treffen mit den Lieblingsfeinden aus Friedrichshain bekannt.