Michel de Montaigne hat vor über 400 Jahren den „Essai“ erfunden. Prophezeiungen stand er skeptisch gegenüber
: Über die Zukunftsdeutungen

... am Heute laß die Seele sich erfreu’n, doch Grübeln übers Morgen scheu’n!

Hinsichtlich der Orakel steht fest, daß sie schon geraume Zeit vor der Ankunft Jesu Christi ihr Ansehen einzubüßen begonnen hatten – sehen wir doch, daß bereits Cicero sich abmüht, die Ursache für ihren Niedergang herauszufinden. Dies sind seine Worte: Woher kommt es, daß Delphi nicht nur heute, sondern schon seit langem keine derartigen Orakelsprüche mehr verkündet und es deshalb nichts gibt, das in größeren Mißkredit geraten wäre?

Was jedoch die anderen Zukunftsdeutungen betrifft, die man beim Opfern von Tieren aus der Lage der – laut Platon aufgrund ihrer natürlichen Beschaffenheit teilweise dafür vorgesehenen – inneren Organe zu gewinnen suchte, aus dem Scharren der Hühner, aus dem Vogelflug, aus den Blitzen, aus den Flußwindungen was all diese und noch weitere Zukunftsdeutungen betrifft, durch die man in der Antike die meisten öffentlichen wie privaten Unternehmungen abzusichern wünschte, so hat unsere Religion sie abgeschafft.

Gleichwohl werden auch bei uns noch einige Methoden der Weissagung aus Sternen und Geistererscheinungen, aus Körperformen und Träumen sowie anderem praktiziert – ein vielsagendes Beispiel für die wahnsinnige Neugierde unserer Menschennatur, die ihre Zeit vergeudet, künftige Dinge im voraus mit Beschlag zu belegen, als ob sie nicht genug damit zu tun hätte, die gegenwärtigen zu verkraften:

Warum hast du dem Menschen dieses eitle Streben, / nach Zukunftswissen, Göttervater, mitgegeben? / Teil Schläge jäh aus, übe gnädig deine Macht, / und was sein Los ist, hüll’s in dichte, dunkle Nacht! / So laß ihn, der von Furcht erfüllt, in Hoffnung leben.

Es ist von keinem Nutzen zu wissen, was die Zukunft bringt: Sich sinnlos zu ängstigen macht unglücklich. Hieraus folgt, daß man den Weissagungen viel weniger Gewicht beimessen sollte.

Daher ist mir das Beispiel des Marquis François de Saluces so bemerkenswert erschienen. Er, Stellvertreter von König Franz bei dessen in Italien stehender Armee, genoß die grenzenlose Gunst unseres Hofs und war dem König schon wegen seines Marquinats zu Dank verpflichtet. Obwohl er also keinerlei Anlaß hatte, die Seite zu wechseln, und sogar seine eignen Gefühle dem entgegenstanden, ließ er sich, wie sich später bestätigen sollte, von den Voraussagen in Angst und Schrecken versetzen, die man damals zugunsten von Kaiser Karl V. und zu unseren Ungunsten überall, besonders aber in Italien in Umlauf brachte (wo diese verrückten Prophezeiungen unsres bevorstehenden Untergangs einen solchen Glauben fanden, daß bei den römischen Banken große Geldsummen umgetauscht wurden) – und machte er eine Kehrtwendung und wechselte die Partei – freilich, wie immer die Konstellation der Sterne gewesen sein mochte, zu seinem großen Schaden.

Gott hüllt, was künftig uns geschieht, / in dichte Finsternis und lacht, / sobald er einen Menschen sieht, / der mehr als recht sich Sorgen macht! / Denn glücklich und ein freier Mann / ist der allein, der jeden Tag/ „Ich hab’ gelebt“ sich sagen kann, / „was immer morgen kommen mag: / ob Sonnenschein, ob Donnerschlag!“ / Am Heute laß die Seele sich erfreu’n, / doch alles Grübeln übers Morgen scheu’n!

Dem widerspricht zwar folgender Satz – aber wer ihm glaubt, glaubt ihm zu Unrecht: Wenn es Weissagungen gibt, gibt es Götter; und umgekehrt, wenn es Götter gibt, gibt es Weissagungen. Wieviel klüger ist da Pacuvius:

Denen, die der Vögel Sprache zu verstehn uns schwören, / Wissen mehr aus fremdem als dem eignen Herz begehren, / wollen wir höflich zuhörn, aber niemals auf sie hören!

Die so weithin gerühmte Weissagekunst der Toskaner entstand folgendermaßen: Ein Bauer, der mit seinem Pflugeisen tiefe Furchen in die Erde schnitt, sah plötzlich den Halbgott Tages daraus hervorkommen, der das Gesicht eines Kindes, doch die Weisheit eines Greises hatte. Alle liefen herbei, und die Worte seines Wissens sammelte man und bewahrte sie über mehrere Jahrhunderte, da sie alle Prinzipien und Praktiken dieser Kunst enthielten. Nichtiger Anfang, nichtiger Fortgang! Ich würde mich in der Regelung meiner Angelegenheiten weitaus lieber als nach solchen Hirngespinsten nach dem Wurf der Würfel richten. Und so hat man denn auch in allen Gemeinwesen dem Los stets eine große Macht zugesprochen. Platon überläßt ihm in seinem idealen Staat viele wichtige Entscheidungen.

Ich sehe, wie manche Leute ihre Almanache studieren, auslegen und uns deren Glaubwürdigkeit anhand der laufenden Ereignisse nachzuweisen suchen. Da dergleichen Kalender so vielerlei sagen, ist es unausweichlich, daß darin Wahrheit und Lüge vermischt sind. Wer würde, wenn er den ganzen Tag schießt, nicht manchmal treffen? Ich beurteile deshalb solche Voraussagen, nur weil sie gelegentlich stimmen, um nichts besser. Wesentlich verläßlicher fände ich sie, wenn es ihre Regel und Wahrheit wäre, immer zu lügen. Hinzu kommt, daß niemand Buch über die Fehlschüsse führt, da sie ja zahllos, also der Normalfall sind. Treffen aber die Prophezeiungen einmal ins Schwarze, stellt man es groß heraus, gerade weil es so selten, ja so unglaublich ist, daß es an ein Wunder grenzt.

Hierfür ein Beispiel: Als Diagoras, den sie den Atheisten nannten, auf der Insel Samothrake weilte, zeigte ihm im Tempel einer die zahlreichen Bilder und Votivtafeln derjenigen, die einem Schiffbruch entkommen waren, und fragte ihn: „Du meinst also, daß die Götter sich nicht um die menschlichen Angelegenheiten kümmern? Was aber sagst du nun dazu, daß so viele Menschen durch ihre Gnade gerettet wurden?“ – „Der Eindruck täuscht“, antwortete er, „denn die Ertrunknen, deren weit mehr waren, sind ja nicht mitgemalt!“

Cicero sagt, daß unter allen die Existenz von Göttern behauptenden Philosophen lediglich Xenophanes von Kolophon versucht habe, jede Art von Weissagung auszurotten. Um so weniger verwunderlich ist es daher, daß wir zuweilen erlebt haben, wie selbst einige unsrer fürstlichen Geister sich zu ihrem Schaden mit solchen Nichtigkeiten aufhielten.

Was immer morgen kommen mag: ob Sonnenschein, ob Donnerschlag ...

Gern hätte ich mit eigenen Augen gesehn, ob an diesen beiden Wundern etwas dran ist: an dem Buch des kalabrischen Abtes Joachim, in dem er alle künftigen Päpste voraussagte, ihre Namen und ihre Gestalt; und an dem des Kaisers Leo, der dies hinsichtlich der Kaiser und Patriarchen Griechenlands tat. Tatsächlich mit eigenen Augen gesehn aber habe ich, daß bei öffentlichen Wirren die durch solche Heimsuchung verstörten Menschen sich wie auf jeden anderen Aberglauben auch auf den stürzen, im Himmel die Ursachen und Androhungen ihres Unglücks ausfindig machen zu können. Da sie hiermit zu meiner Zeit so verblüffend erfolgreich sind, haben sie mich überzeugt, daß die in der subtilen Kunst des Hin- und Herwendens und Entwirrens der einschlägigen Schriften Geübten – ein Zeitvertreib für scharfsinnige Geister mit genügend Muße – fähig wären, in ihnen allen alles zu finden, worauf sie aus sind. Ein leichtes Spiel bietet ihnen aber besonders der dunkle, vieldeutige und verstiegne prophetische Jargon, dem seine Urheber nie einen klaren Sinn geben, damit die Nachwelt den ihr jeweils passenden hineinlegen könne.

Das Daimonion des Sokrates bestand vielleicht aus bestimmten Willensimpulsen, die sich seiner bemächtigen, ohne den Ratschlag seines Verstandes abzuwarten. Bei einer durch fortdauernde Einübung in Weisheit und Tugend so wohlgerüsteten und geläuterten Seele wie der seinen waren diese Neigungen, obgleich ungestüm und undurchdacht, wahrscheinlich stets wesentlich und würdig, befolgt zu werden.

Schemenhaft nimmt jeder in sich dergleichen heftige Regungen einer so unwillkürlich und plötzlich wie unabweisbar auftauchenden Ahnung wahr. An mir liegt es, etwas auf sie zu geben, der ich auf unsere Klguheit derart wenig gebe. Ich habe welche gehabt, die gleichermaßen schwach an Vernunftgründen und stark im Zuraten waren – oder im Abraten, was bei Sokrates häufiger geschah – und von denen ich mich völlig mitreißen ließ; sie brachten mir so viel Vorteil und Glück, daß man meinen könnte, es sei etwas von göttlicher Eingebung in ihnen gewesen. Michel de Montaigne

Übersetzung: Hans Stilett