Gastfreundlich zu jedem

■ Die afghanischen Taliban nutzen die Flugzeugentführung, um ihr ramponiertes Ansehen in der Weltgemeinschaft zu reparieren

Wer immer bei der Entführung des Indian-Airlines-Flugzeuges als Sieger hervorgehen wird – die radikal-islamischen pakistanischen Entführer oder die indische Regierung –, er wird das Podest mit den Taliban teilen müssen. Die Islamstudenten, die seit 1997 rund 85 Prozent des Territoriums Afghanistans beherrschen, von der Weltgemeinschaft jedoch geschnitten werden, waren plötzlich mit einem Piratenakt konfrontiert, als der Airbus A-300 am letzten Samstag auf dem Flugfeld von Kandahar ausrollte. Trotz der ideologischen Verwandtschaft mit dem Gedankengut der Entführer haben sie es fertig gebracht, die Wertschätzung der Inder und der Diplomaten der UN und anderer Länder zu gewinnen, deren Angehörige ebenfalls im Flugzeug als Geiseln festgehalten werden.

Zunächst forderten sie die Entführer auf, das Land zu verlassen. Am zweiten Tag beschloss dann eine „Shura“ – der traditionelle Ältestenrat der afghanischen Gesellschaft – unter dem Vorsitz des obersten Taliban-Führers Mullah Omar, dass der Piratenakt nicht akzeptabel sei. Sie luden Indien ein, zu verhandeln und drohten den Entführern, das Flugzeug zu stürmen, falls sie von drinnen Schüsse oder Schreie hörten. Trotzdem ist es den Taliban bisher gelungen, das Vertrauen der Geiselnehmer zu wahren. Dies zeigte sich etwa am Mittwoch, als diese zwei der Forderungen – ein Lösegeld von 200 Millionen US-Dollar und die Herausgabe der Leiche eines vor einem halben Jahr erschossenen kaschmirischen Rebellen – fallen ließen. Der Grund: Die Taliban überzeugten die Geiselnehmer, dass beides „unislamische Akte“ seien – ein Argument, dem sich die noch frommeren Luftpiraten nicht entziehen konnten. Politisches Asyl, so Taliban-Außenminister Wakil Mutawakil, komme für die Piraten nicht in Frage.

Die harte, wenn auch konziliante Haltung der Gotteskrieger ist zweifellos darauf angelegt, ihre internationale Isolation zu lockern. Wegen ihrer Menschenrechts- und vor allem Frauenpolitik hat die UNO bisher an der Isolierung festgehalten. Die Gastfreundschaft, die sie dem vermuteten Terroristen Ussama Bin Laden entgegenbringen, hat diese Isolierung noch vertieft: Die UNO reagierte vor zwei Monaten mit einem vollständigen Verkehrs- und Wirtschaftsboykott.

Es wäre allerdings falsch, die Taliban als eine monolithische Gruppierung von islamischen Fanatikern abzutun. Die UNO-Sanktionen hatten allerdings den radikalen Elementen Auftrieb gegeben. Dagegen kann man annehmen, dass die Flugzeugentführung von den „gemäßigten“ Führern als Chance gesehen wird, um für die Wiederaufnahme in die Weltgemeinschaft zu werben.

Es bleibt allerdings ein ungutes Gefühl. Das südasiatische Stereotyp über Afghanen besteht aus zwei Begriffen: „Gastfreundschaft“ und „Verschlagenheit“. Ihre Gastfreundschaft haben die Taliban mit der Versorgung der Flugzeuginsassen mit Lebensmitteln bewiesen. Aber sind auch die Entführer Gäste, etwa so, wie es Bin Laden ist? Auch mit ihm wollen sie nichts zu tun haben – sie befolgten nur das Stammesgesetz der Gastfreundschaft. Indische Beobachter weisen darauf hin, dass Mutawakil, nachdem er von den Entführern die Aufgabe von zwei Forderungen erreicht hatte, an die Adresse der Inder meinte, nun sei es an diesen, Flexibilität zu zeigen – das heißt, die Forderung nach der Freilassung von 36 Gefangenen zu erfüllen. War es also ein abgekartetes Spiel – das Hochschrauben von Forderungen, deren Aufgabe, gefolgt vom Druck auf Indien, nun ebenfalls Vernunft zu zeigen?

Bernard Imhasly, Delhi