: Koks vor Zwölf
Mit Raketen im Rucksack – raus in das nächste 1.000-jährige Reich
„Die Kapelle ist hervorragend“ (General a. D. Schönbohm an der VIP-Tanzfläche)
Während in den USA und in Frankreich vor allem die Revolutionstage gefeiert werden, geraten die Deutschen eher an Kalendertagen aus dem Häuschen. Gerne transformiert man auch soziale Bewegungen in Dezennien-Moden. In Berlin changieren die Großveranstaltungen naturgemäß zwischen preußisch-verstiegenen Junkerfreuden und schwul-fröhlichem Nazitum. Heuer reichte das Partyspektrum von sündhaft-teuren Camp-Feten in den Privatetagen eines Bankhauses am Pariser Platz bis zur bunt-zitierten Speerschen Lichtorgie an der Siegessäule. Die Ostler wurden am Roten Rathaus mit ihren alten Lieblingsbands unterhalten.
Während man in den Krisenstäben ausrechnete, dass jeder Besucher auf der 4,5 Kilometer langen Amüsiermeile die 1.000 Dixi-Toiletten höchstens einmal aufsuchen konnte, kam man in den Clubs und Bars in Mitte nicht mehr auf die Toiletten, weil dort alle „Koks vor 12“ eine Nase nahmen. Während die Eintrittspreise für die Indoor-Events im Vorfeld mangels Nachfrage verfielen, explodierten die Kokainpreise.
Wer eine beheizbare Datsche oder gar ein Bauernhaus im Umland besaß, feierte mit Freunden – am Kamin. Dafür zog es das Jungvolk aus Westdeutschland wie sonst nur zur Love Parade nach Berlin. Im Gegensatz zur New Yorker Times-Square-Party erlaubten hier die Sicherheitskräfte Alkoholika. Die Raketen im Rucksack mussten jedoch auf dem Alexanderplatz abgefeuert werden. Das neue Reich wird ein normatives sein! Nur Wunderkerzen durften auf die Tanzplätze mitgenommen werden. Ein gutes Geschäft machte Sadir (34), der schwarze Plastikbrillen in „2000“er-Form verkaufte: „8.400 Mark Reingewinn in 7 Stunden, das ist doch nicht schlecht!“ Aus Italien und Spanien reisten ganze Hundertschaften junger Leute an. Die Züge nach Berlin waren überfüllt, auch die U-Bahnen. Und Tausende zogen anschließend noch in Rotten durch die Innenstadt – auf der Suche nach weiteren Partys. Die billigste fand im Bahnhof Alexanderplatz statt, wo ein Burger-King den Umsatz seines Lebens machte.
Auf vielen Privatfeiern lief der Fernseher. Der ehemalige taz-Theaterkritiker Klaus Nothnagel führte – als nunmehriger Redakteur des Deutsche Welle TV – zusammen mit SFB-Moderator Ulli Zelle durch die Millenniumsfeiern der Hauptstadt aller Deutschen, und mochten sie auch in Namibia wohnen. Sie alle mussten sich in dieser Nacht – live aus der Dresdner Bank – sagen lassen: „Rotkäppchen ist jetzt Kult!“, „Eine gute Gesundheit kann man immer gebrauchen“ ... . Abschließend wünschte der weltgewandte Nothnagel („Wie ich die Afrikaner kenne ...“) dem Bürgermeister Diepgen noch „eine glückliche Hand beim Regie- ren ...“. Eine ermattete Sprecherin des Gesamtstaates meinte wenig später aber schon: „Ohne unbescheiden zu sein – die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr viel an Kommunikation aufgewendet.“ Diepgen überzeugte sich derweil persönlich davon, dass am Tor stimmungsmäßig „alles in Ordnung“ war.
Dass ausgerechnet das postprotestantische deutsche Juvenilpotential nun vehement bei der Vermarktung der neuen Feier- und Freizeit-Kultur bis zur Weltspitze vorpreschen will, hat etwas Verwegenes. Die TV-Moderatoren schraubten sich zu haltlosen Superlativen hoch, das Publikum mit ihnen: „Superspitzenklasse!“, meinte etwa eine junge Badenserin, ihr Freund ergänzte: „In Heidelberg ist tote Hose.“ Viele Tanz- und Musikkulte der ehemaligen Kolonien verdienten am Vergnügungszeremonial mit. Am Kulturforum lief ununterbrochen ein „Weltmusik“-Programm. Die Salsa- und Bongo-kurse waren im vergangenen Jahr ausgebucht. Ganze brasilianische Sambaschulen wurden eingeflogen, sie dürfen inzwischen selbst auf Kiezfesten nicht mehr fehlen.
Wie ebenso wenig ein Gran Umverteilungsterror: Etwa 12 teure Autos wurden abgefackelt. Und zur Erinnerung an die Plünderung des Kreuzberger Bolle-Supermarktes 1987 stand wieder ein einsamer Einkaufswagen mahnend auf der Verkehrsinsel am Görlitzer Bahnhof. Am Heinrichplatz brannte diesmal der Punker-„Headshop“ aus. „Aber man kommt noch durch!“, rief eine alte Anwohnerin den Touristen zu. Wegen des dichten Nebels waren die polizeilichen Blaulichter im Problembezirk heuer sowieso effektiver als alle Silvesterraketen. Helmut Höge
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