Paradiesische Bildschirme

■ Mit Fabrizio Plessis Videos peilt die Kestner-Gesellschaft die Expo 2000 an

Man begibt sich in eine Unterwelt homerischen Angedenkens, die alle Zeichen eines auseinander driftenden Alltags aufweist

Das Gedächtnis ist lahm, aber zäh. Selten macht es große Sprünge. Eher schon deckt es mit dunklen Schatten die Dinge zu, die es greift und fortschleppt. Aber es schleppt sie alle immer weiter fort, sich mählich wie eine Mühle drehend, die das Gewesene zerreibt, jedoch nicht zermalmt. Fabrizio Plessi hat eine mächtige Metapher dafür gefunden und sie in die vier großen Hallen der Hannoveraner Kestner-Gesellschaft gewuchtet.

Seine „Movimenti della memoria“ (Bewegungen des Gedächtnisses) sind drei massige, an dicken Strippen von der Decke hängende Baumstämme, die eine Handbreit über dem Boden um ihre Achse kreisen. Jedes ihrer Enden ist verbrannt, im Inneren der ausgehöhlten Schäfte lodert – videogeneriert – Feuer. Oben aufgebockt eine Handkarre, die ein schwarzes Tuch nur unzulänglich bedeckt: Das Rad, das unter dem Saum hervorlugt, ruft braune Äcker, biblischen Schweiß und uralte Fron in Erinnerung. Deshalb vermutlich, weil das Bild einen unter Assoziationsbeschuss nimmt, hört man Geächze und Geschrei, Trommelfeuer und Meeresrauschen aus der umbrausenden Geräuschkulisse heraus. Letzteres stärker: Der Künstler bleibt nicht bei der kurzatmigen Kulturhistorie, er hat das Erdzeitalter und das Naturgedächtnis im Sinn.

Mit der Einzelausstellung von Fabrizio Plessis „Der Hängende Wald – L'anima della materia“ (Die Seele der Materie) leitet die Kestner-Gesellschaft das Expo-Jahr ein. Ein Auftakt mit Pauken und Trompeten. Erstens befasst sich der italienische Künstler seit jeher schon mit der Expo-Triade „Mensch – Natur – Technik“. Zweitens wirken seine technologisch gestützten Urszenarien so unmittelbar auf Netzhaut und Vorstellungskraft, spielen so unverhohlen auf literarische und mythologische Topoi an, dass einem dabei ständig Wagnerpomp einfällt – obwohl der italienische Künstler aus einer ganz anderen Ecke kommt.

Die Karriere des Fabrizio Plessi begann Ende der Sechzigerjahre mit der Aneignung von Wasser als Medium, das er in irrwitzig anmutenden Aktionen traktierte: Er sägte den Stichtersee durch, nagelte blaues Eis auf Holzstücke, versuchte wie Jesus auf dem Wasser zu gehen. Bald machte er sich das Video zunutze, und mit der Performance „Air/Earth/Water/Fire“ hielten alle vier Elemente Einzug in seine Kunst. Nach lorbeerreicher Laufbahn, die 1998 eine umfassende Einzelausstellung im Guggenheim Museum New York krönte, hat Plessi nun den Nord/LB-Kunstpreis erhalten. Diese Würdigung ist so angelegt, dass ein Vielfaches der Preissumme der Kunststätte übergeben wird, die eine Einzelschau des Gewählten ausrichtet. So kamen Plessis monumentale Installationen, die er neu für die Kestner-Gesellschaft kreierte, in die Expo-Stadt.

In der größeren unteren Halle der Kestner-Gesellschaft öffnet sich dem Besucher die Schmiedehöhle des Vulkans. Rötlich dämmert es wie im ersten Raum aus den Baumhöhlungen. Stämme sind hier an schrägen, verrußten Eisenwänden vertäut, die den Raum umstehen, Äxte in die Rinde eingerammt, umgeworfene Tische und Stühle, ein Einkaufswagen dazu, an den Bäumen festgezurrt. Man begibt sich in die Unterwelt homerischen Angedenkens, und die Unterwelt weist alle Zeichen eines auseinander driftenden, von Gewalt grundierten Alltags auf.

Tatsächlich wollte der Künstler zunächst seine Schau „Inferno e Paradiso“ betiteln. Der Titel wurde dann der Bescheidenheit zuliebe fallen gelassen, aber dennoch steigt der Besucher vom ersten ins zweite Stockwerk wie Dante auf den Läuterungsberg. Im 28. Gesang des Purgatoriums stößt der Dichter auf einen alten Wald, in dem ein Fluss, die Lethe, fließt. Er ist im verlorenen irdischen Paradies angekommen: „Hier sind der Menschenwurzel Unschuldstage!“, verkündet ihm eine wundersame Frauengestalt.

In Hannover ist Eden ein Urwald tonnenschwerer ausgehöhlter Stämme, die von der gewölbten Decke herabhängen. Von einem im Inneren steckenden Projektor wird auf schwarzmetallene, quadratische Bassins ein lichter Kreis projiziert, in dem schäumendes Wasser emporquillt. Ringsum prasselt der Regen aus den Lautsprechern auf den Boden. Wer sich vom Titel „Der Hängende Wald – L'anima della materia“, der in erster Linie diesem dritten Environment zusteht, auf den animistischen Gedankenpfad hat verleiten lassen, muss hier feststellen, dass die Seele der Bäume nichts als ein Videoprojektor ist, das Läuterungsfluidum Regen nur ein Illusionsprodukt der Tonanlage.

Und die Lethe, der Fluss des Vergessens, worin bei Dante die Sünden getilgt werden, fließt in der Nebenhalle innerhalb eines stattlichen Einbaums. In dessen Senke sind elf Monitore eingelassen, auf denen das Wasser vom Bug zum Heck treibt, in die Gegenrichtung des Nachens. Statt die Erinnerungen auszulöschen, strömt es zurück. Fern davon, Erlösung zu finden, wird der Passagier beim Vorwärtsgleiten von der Vergangenheit eingeholt. Diese Doppelsinnigkeit, die sich des Mythos bemächtigt, um ihm letztendlich zu widersprechen, versöhnt dann auch mit Plessis üppiger Bildrhetorik. Sich deren Anziehungskraft zu entziehen fällt zugegebenermaßen schwer. Man schwelgt gern in Bildern wie dem des Einbaums, der ins bläuliche Licht sticht. Blau, hat einmal der Künstler betont, ist die Farbe des Wassers, des Himmels und der Bildschirme. Aureliana SorrentoBis 13. 2., Kestner-Gesellschaft Hannover; Katalog mit Texten von Carl Haenlein und Carsten Ahrens, 42 Mark