Freilassung als Geschenk zu Silvester

Die Flugzeugentführung von Kandahar ist beendet. Indiens Regierung hat eingelenkt, und die Entführer sind abgetaucht – vermutlich in Pakistan. Nun wird über die Folgen der Affäre diskutiert ■ Aus Delhi Bernard Imhasly

Die indische Astrologin sollte recht behalten: Die Flugzeugentführung würde noch vor dem Beginn eines neuen Jahrhunderts ein Ende nehmen, hatte sie prophezeit – ohne Gewalt, aber auch ohne Frieden. Am Silvestertag, genau eine Woche nach dem Piratenakt im indischen Luftraum, konnten die 160 Passagiere und Besatzung den auf dem Flugfeld von Kandahar geparkten Airbus A-300 verlassen und wurden von indischen Ärzten einer ersten Gesundheitskontrolle unterzogen. Kurz zuvor waren die fünf Luftpiraten aus der Maschine gestiegen.

Ein Auto, in dem sich die aus indischen Gefängnissen freigepressten drei kaschmirischen Rebellen befanden, fuhr an die Flugzeugtreppe. Nach Überprüfung ihrer Identität stiegen die Luftpiraten ebenfalls zu und fuhren davon. Die freigelassenen Passagiere, unter ihnen zwölf Ausländer flogen darauf in zwei Indian Airlines-Flugzeugen nach Delhi, wo sie viel zu erschöpft ankamen, um an den nun viel unbeschwerteren Milleniumsfeiern teilzunehmen.

Die ersten Signale einer Einigung waren am Freitagmorgen aus Kaschmir gekommen, von wo zwei der drei Gefangenen nach Delhi gebracht wurden. Es handelte sich um Maulana Masud Azhar, den pakistanischen Chef der kaschmirischen Separatistengruppe Harkat al-Ansar, sowie den Anführer einer weiteren Untergrundorganisation, al-Umar. Kurz darauf erklärte Brajesh Mishra, der Sicherheitsberater der Regierung, diese habe mit den Entführern eine Einigung erzielt. Im Verlauf des Nachmittags reiste Außenminister Jaswant Singh nach Kandahar; im gleichen Flugzeug befanden sich die drei freigepressten Rebellen.

Die Taliban haben den Entführern das Asyl verweigert. Sie gaben ihnen zehn Stunden, um mit den drei freigekommenen Gesinnungsgenossen Afghanistan zu verlassen. Vermutlich reisten sie nach Pakistan, da laut Auskunft von Außenminister Singh mit Ausnahme eines der befreiten Rebellen alle Pakistaner sind. Am Samstag erklärte der pakistanische Innenminister Moinuddin Haider, die Geiselnehmer seien nicht in Pakistan. Falls sie dort einträfen, würden sie unter Anklage gestellt. Wahrscheinlicher ist, dass sie in Pakistan beziehungsweise Kaschmir für eine bestimmte Zeit aus dem Verkehr gezogen werden. Außenminister Singh machte indirekt Pakistan für die Geiselnahme verantwortlich und verlangte „Gerechtigkeit und Vergeltung“.

Auf einer Pressekonferenz am Samstag verteidigte Singh das indische Nachgeben. „Die nationale Ehre und das nationale Interesse werden durch die Rettung unschuldiger Menschen nicht beeinträchtigt.“ Trotzdem, so meinen die meisten Zeitungskommentare, gehen die Entführer als Sieger von der Bühne. Mit der Freilassung der drei Rebellen, insbesondere von Maulana Azhar, haben sie ihre ursprüngliche Forderung durchgesetzt. Sie hatten diese später auf die Freilassung von 36 Gefangenen und 200 Millionen US-Dollar Lösegeld erhöht. „Aber dies war Verhandlungstaktik, damit die Inder bei einem Nachgeben nicht ihr Gesicht verlieren mussten“, meinte ein Beobachter.

Als sich Premierminister A.B.Vajpayee am Freitagabend ans Volk wandte, bezeichnete er die Reduktion der Forderungen als Erfolg seiner Politik, sowohl humanitären wie politischen Interessen gerecht zu werden. Bei aller Erleichterung über die glückliche Wende des Geiseldramas lautet die vorherrschende Meinung, dass dieser Sieg der Humanität auch eine Niederlage im Kampf gegen den Terrorismus war. Wie so oft ging das Vermeiden von Gewalt einher mit einem Verzicht auf Frieden.

Indien konnte das neue Jahrtausend doch noch mit Feuerwerk einläuten. Für die weltweite Amüsiermaschine der Milleniumsfeier, die auch Indien erreicht hatte, bedeuteten die 160 Geiseln auf einem verlassenen Flugfeld jedoch eine trübe Aussicht. Offizielle Feiern waren annulliert worden, der Verkauf von Feuerwerkskörpern ging abrupt zurück. Mit der unerwarteten Wende gab der lästige Zwischenfall nun einen zusätzlichen Kick zum Feiern. In Goa, einer der weltweit größten Party-Location, hatten die DJs eine Schweigeminute geplant – sie wurde nun durch einen Tusch mit patriotischer Musik ersetzt.