108 Gongschläge gegen das Übel der Welt

Die Milleniumsfeiern in Japan waren gedämpft. In dem buddhistischenIndustrielandbleibt der Gang zum Tempel das Hauptereignis

Yokohama (taz) – So unspektakulär wie in Japan sind die Millenniumsfeiern wohl in keinem anderen großen Industrieland der Welt begangen worden. Nur ein paar tausend Leute fanden sich in der Waterfront – einer künstlichen Insel in der Bucht von Tokio – zu einer Millenniumsparty ein. Der Rest der Nation saß im Kreis der Familie vor der beliebten Musikshow „Kohaku“ oder befand sich auf dem Weg zu einem der über zehntausend buddhistischen Tempel und shintoistischen Schreine des Landes, um Glück und Gesundheit zu erbitten.

Das Neujahr läuteten die Tempel mit 108 Gongschlägen gegen die Übel dieser Welt ein. Als eine halbe Stunde später Premier Obuchi in einer Fernsehansprache erklärte, dass der Datumswechsel problemlos über die Bühen gegangen sei, kehrten die Japaner endgültig zur Tagesordnung zurück. Verklebte Mülleimer in den U-Bahnstationen und die Polizeipräsenz auf den Straßen erinnerten zwar daran, dass im Umkreis von Tokio Anschläge von extremistischen Gruppen befürchtet wurden. Doch auch diese Sorgen entpuppten sich als unbegründet.

Für die zwei Millionen im Einsatz stehenden Computerspezialisten, Polizisten und Soldaten begann spätestens gestern das Fest im Kreise der Familie. Selbst bei den ins Gerede gekommenen Anlagen der Atomindustrie lief fast alles glatt. Allerdings fielen im Reaktor Ishikawa mehrere Messgeräte aus. Im nördlich von Tokio gelegenen AKW Fukishima zeigte eine Kontrollanzeige das Datum „6. Februar 2026“ an, für die Überwachungstechnik des Atommülllagers Aomori war hingegen der 1. 1. 1999 angebrochen. Alles so ruhig wie erhofft also.

Hochbetrieb herrschte dagegen in Tempeln und Schreinen. Selbst in unbekannten Stätten, wie dem Kumano-Schrein in Morooka im Westen von Tokio standen die Menschen bis in die frühen Morgenstunden Schlange, um Amulette und Glückspfeile für das beginnende Jahr des Drachen zu kaufen. Da in Japan offiziell das 12. Jahr der Thronbesteigung von Tenno Akihito beginnt, drehte sich das Gespräch der Tempelgänger mehr um die Nachricht von Prinzessin Masakos Fehlgeburt, als um den christlichen Datumswechsel. „Ich habe für Masako ein Kurzgebet gesprochen und hoffe sie gebärt doch noch ein gesundes Kind“, sagte Tomoko Hayashi, Mutter von zwei Kindern. Ihr Mann Takaaki, Angestellter in einem Warenhaus, bat um etwas Konkreteres: „Die Konjunktur soll anziehen, damit ich meinen Arbeitsplatz nicht verliere.“ Diese Bitte haben in diesen Tagen wohl Millionen von Japaner in Tempeln und Schreinen deponiert. André Kunz