Grünkohl-Palm-Guerilleros

■ Der lange Marsch der „Ostfriesischen Palme“ vom einstigen Überlebensgemüse zur Undercover-Pflanze / Oder wie Grünkohl-Enthusiasten um eine Spezie kämpfen

Heiß und fettig, mit–n lütje Soepke, so sorgt Grünkohl zurzeit wieder für das Wohlempfinden nicht nur lokalpatriotischer Fresser. Doch hinter der Sättigungsbeilage Grünkohl verbirgt sich der Fall Grünkohl. Dies ist die Geschichte vom Wandel in Landwirtschaft, Gesellschaft und Welt schlechthin, wiedergespiegelt im Mikrokosmos Grünkohl.

Es geht um die „Ostfriesische Palme“. In Ostfriesland gab es tatsächlich eine Grünkohlsorte mit diesem Namen (vgl. taz vom 27./28.11.1999). Der liebevoll „Oldenburger Palme“ gerufene Kohl heißt eigentlich Lerchenzunge oder Hoher Grüner Krauser. Dies sind auch heute noch gängige Grünkohlsorten. Die Ostfriesische Palme dagegen ist ausgestorben. Überall? Zum Glück: nein!

Am Rand der Welt, in Rhauderfehn, wo selbst Ostfriesen in der Landkarte nach Orientierung suchen, wohnen Iris und Reinhardt Ehrentraut mit ihrer Tochter in einem Bauwagen. Eigentlich sollte der junge Mann den Hof des Vaters übernehmen. „Ich bin nun mal nicht zum Akkordmelken geboren“, erklärt Ehrentraut seinen Verzicht auf den elterlichen Hof. Stattdessen zählt der gelernte Landwirt Erbsen, genauer Erbsensaat und andere Körner. Er hat einen Saatguthandel aufgebaut. Sein Forscherdrang gilt der Ostfriesischen Palme.

In Ostfriesland war diese alte Kulturpflanze die eiserne Winterreserve für Mensch und Tier. Die unteren Blätter bekamen Schaf, Ziege, Kuh und Schwein. Die obere Rosette aßen die Menschen. Diese Zweinutzung diskriminierte das Gemüse bei Nicht-Norddeutschen. In der Region aber blieb Grünkohl eine ausgesprochene Delikatesse. Geradezu unerschöpflich sind die Arten seiner Zubereitung. In einem aber gleichen sich alle Grünkohlspeisungen: Es müssen geistige Getränke gereicht werden. Soweit die gute Nachricht.

Die Grünkohlsorte „Ostfriesische Palme“ hat ihren Namen von ihrer Hochstämmigkeit. Bis zu 1,70 Meter hoch wird das Gewächs. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg fand man auf den Bauernhöfen ein differenziertes Tierangebot. Da wurde eben auch der Grünkohl als Zusatzfutter sehr geschätzt. Hinter den Höfen waren riesige Kohlfelder angelegt. Im Zuge der Massentierhaltung wurden diese von Mais, Silage und künstlichem Kraftfutter verdrängt.

„Leider droht die Ostfriesische Palme auszusterben“, bedauert Reinhardt Ehrentraut aus Rhauderfehn. Wenn es um das heimische Gewächs geht, fühlt er sich als Saatgut-Guerillero. Er und seine Freunde sind bundesweit im Unternehmen „Dreschflegel“ organisiert. Sie bauen bio-dynamisch Saatgut an und versuchen alte Kulturpflanzen vor dem Aussterben zu retten. „Tragisch ist, dass durch die Verminderung des Sortenangebotes nur noch gängige Sorten gehandelt werden. Kommt es bei denen zu Krankheiten, können diese Krankheiten nicht mehr mit anderen Sorten weggezüchtet werden“, weiß Ehrentraut. Ein Halleluja für Chemiedüngemittel und Gen-Industrie.

„Wir haben von der Ostfriesischen Palme von alten Bauern und Gärtnern Saatgut zusammengesammelt“, sagt Dreschflegel Reinhard. Handeln darf er damit aber nicht. „Jede Sorte muss beim Bundessortenamt angemeldet werden. Dann wird sie in die europäische Sortenliste aufgenommen. Erst dann darf sie gewerbsmäßig vertrieben werden“, sagt der Züchter. Der Haken an der Sache. Die Anmeldung beim Bundessortenamt kostet bis zu 900 Mark. Ein Saatpäckchen mit 25 Gramm bringt dem Händler gerade mal drei bis vier Mark. Nachdem der alte Züchter sein Palmen-Patent zurückgegeben hat, ist die Palme aus der europäischen Sortenliste gestrichen. Da auch in den beiden Saatgut Gen-Banken Deutschlands, in Braunschweig und in Gattersleben, die Ostfriesische Palme nicht archiviert ist, droht die Pflanze auszusterben. Zurzeit führt sie als Undercover-Kohl noch eine kärgliche Existenz. Denn: „Wir dürfen zwar nicht mit der Pflanze handeln, aber, sie zu verschenken, verbietet uns niemand“, meint Ehrentraut. Irgendwann, so hofft er, finden sich edle SpenderInnen, die das Geld für eine legale Anmeldung zusammenbringen. Dann gibt–s Kohl satt.

Thomas Schumacher