Der Hanseat – in pragmatischer Hinsicht

Matthias Wegner hat ein feines Buch über die Hanseaten geschrieben und versucht darin, diesem unbekannten Wesen auf den Grund zu gehen. Ob ihm das gelungen ist, sagt der gebürtige Nicht-Hanseat  ■ Manuel Fontán del Junco

Was verbirgt sich hinter der Charakterisierung „hanseatisch“? Das fragte sich vor zwei Jahren in einem Gespräch mit der taz Manuel Fontán del Junco, als er aus Madrid in die Hansestadt Bremen gezogen war, um hier die Leitung des spanischen Kulturinstitutes Cervantes zu übernehmen. Damals vermutete der promovierte Philosoph und frisch gebackene Bremer dahinter einen „feinen Stolz über die eigene Freiheit“. Nun hat Matthias Wegner ein voluminöses Buch veröffentlicht, das sich der Frage nach dem Wesen des Hanseatischen widmet. Wer anders als Manuel Fontán del Junco kann dieses Buch angemessen würdigen?

Djuna Barnes schreibt in ihrem Roman „Nightwood“: „Ihr zerquetscht die Leber einer Ente und habt pÛté; ihr preßt den Herzmuskel eines Menschen aus und habt einen Philosophen.“ Und wenn man Raum und Zeit der Bürger (auch der Bürgerinnen) dreier Städte – Bremen, Lübeck, Hamburg – zwischen 1800 und 1999 bei norddeutschen Temperaturen verdichtet, was haben wir dann? Auf jeden Fall ein Buch von 459 feinsinnigen Seiten sowie Bilder über „Hanseaten, stolze Bürger und schöne Legenden“: Eine Lektüre, die mehr als eine Empfehlung wert ist.

Der Rezensent muss aber vorausschicken, dass er nicht in einer der drei alten Hansestädte geboren ist, sondern vielmehr nahe der nordafrikanischen Küste, im Deep South von Spanien, in Andalusien. Vielleicht liegt es an dieser naturgegebenen kritischen Distanz zum Hanseatentum, dass ausgerechnet ihm die taz eine Rezension von Wegners Buch angetragen hat. Trotz eines nun zweijährigen Aufenthaltes in Bremen fühle ich mich im Angesicht dieser Aufgabe wie jener französische Autor, von dem Dostoievskij sagte, dass er bereits die Hälfte seines „Voyage en Russie“ geschrieben hatte, knapp bevor der Orient Express die italienische Grenze passiert hatte ...

Wenn der Leser akzeptieren kann, dass es letztlich keinen View from nowhere gibt und man in zwei Jahren zumindest das bisschen Local knowledge und Mit-Gefühl erntet, das man braucht, um solch ein Buch zu besprechen, dann kann er weiterlesen.

Diese längere Rechtfertigung sei deshalb vorangestellt, weil das fundamentale Problem, dem sich der Rezensent gegenübersieht, das gleiche zu sein scheint wie das, mit dem sich Matthias Wegner in seinem Werk konfrontiert. Lässt sich etwas so Flüchtiges identifizieren wie das so genannte „Lokalkolorit“ von Städten und Menschen, in diesem Fall der Hanse? Denn je länger man über „das Hanseatische“ und seine Wurzeln nachdenkt, „um so mehr verschwimmen seine Konturen, und man gerät in ein Meer von Widersprüchen“.

Diesen Prüfstein meistert Wegners Buch souverän. Statt ein Cocktail allgemeiner Charakteristika mit noch allgemeineren Zügen und seltsamen Eigentümlichkeiten zu mischen, um dieses Gebräu dann in einer Flasche mit „Hanseat pur“ zu etikettieren und damit die Anekdotensammlung für Stammtischrunden aufzurüsten; statt mit einem weiteren unlesbaren Band zur dubiösen und gottseidank wenig frequentierten Schublade der Völkerpsychologie beizutragen, greift Wegner ganz konkrete Geschichten und Lebensläufe von ganz konkreten Bürgern heraus: unter ihnen beispielsweise aus dem 19. Jahrhundert jene des Bremer Bürgermeisters Johann Smidt, seines Zeitgenossen und bremischen Senators Georg Gröning sowie der Sozialrevolutionärin Marie Mindermann. Und damit ist seine Fragestellung anders, nämlich: Gab und „gibt es sie überhaupt, diese ,Hanseaten'?“

Was Wegner schreibt, sind also „Geschichten von Hanseaten“. Und was daraus resultiert ist ein bunter, vielfältiger und lehrreicher Karneval von tragischen Figuren und großen Charakteren – eben die Realität. Denn Wegner hat genau das historische Gespür, das man braucht, um sich auf dem schmalen Grat zwischen hyperwissenschaftlicher Geschichtsschreibung und plattem Folklorismus zu bewegen. Das Buch ist brillant in seiner Gliederung, lässt sich sehr flüssig lesen und verrät meiner Meinung nach gerade einige der notwendigen Feinheiten, um so ein Buch überzeugend zu schreiben: zuerst das Gespür dafür, dass Individuen immer besser sind als ihre Kulturen und dass Lokalkolorit nie mehr sein sollte als der eingefärbte Hintergrund für Haupt- und Nebendarsteller.

Die Sensibilität des Autors reicht jedoch weiter. Der gebürtige Hamburger Wegner verfügt über familiäre Hintergründe, Lebenserfahrung und unendliche geschichtliche Kentnisse in Sachen „Hanseatisch“ im Gegensatz zum Rezensenten. Der aber immerhin weiß, dass die menschlichen Dinge sind, wie sie sind, weil wir sie so erzählen, wie wir sie erzählen. Es ist daher wichtig, Geschichten mit einem Gespür für Moral zu erzählen. Und das wiederum kann unserer Autor sehr gut. Denn nicht von ungefähr beschäftigt sich Wegner nicht nur mit Biographien, sondern auch mit der besonderen Art von Geschichte, die daraus resultiert, wenn wir Menschen versuchen, uns selbst zu erklären „the stuff we are made off“, und zwar: der Mythos. Der Mythos, nach dem „die vermeintlichen Erben der alten Hanse (...) als weltoffen, urban, nüchtern und zuverlässig, aristokratisch, reserviert und steif, den Sinn eher auf dem Kommerz als auf das Kulturelle gerichtet“, gelten. Daher will sein Buch „von „hanseatischen“ Menschen, ihren Schicksalen, ihren Beweggründen erzählen“, aber auch „einem seltsam unscharfen Mythos nachspüren.“

Diese Art von Geschichten erzählt Matthias Wegner sehr gut, sehr offen, sehr facettenreich – vom kaufmännischen Wohlstand bis zu den Elendsvierteln – und in nichts beschönigend (siehe etwa den Abschnitt über Hamburgs Rolle in der Nazizeit). Sollte ein zweiter Wegner auf die Idee kommen, im Jahr 2099 noch ein Buch über die Hanseaten zu schreiben, würde der ers-te Wegner eine verlässliche Quelle bleiben.

Nachdem der Rezensent das Geschriebene gelesen hat, hat er einen Vergleich mit demselben Stück Wirklichkeit angestellt mit dem sich Wegner beschäftigt, d. h. mit einigen Menschen. Schrieb nicht auch Immanuel Kant – ein Preuße – am Anfang seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, dass „jeder Fortschritt der Kultur, durch den der Mensch sich bildet, den Zweck hat, die so erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten auf die Welt anzuwenden; aber das wichtigste Objekt der Anwendung ist der Mensch selbst“? Die Menschen: Denn entweder wirken alle diese „hanseatischen“ Prädikate ein bisschen im Kant'schen Sinne, oder sind sie nichts weiter als verstaubte Antiquitäten für das vergessene Magazin eines düsteren Raritätenkabinetts eines heruntergekommenen Volks- und Landeskundlichen Museums eines unbedeutenden Dorfes. Wegners Geschichten helfen dabei, diese Prädikate zu prüfen, indem sie „hanseatische“ Züge plötzlich im menschlichen Antlitz erhellen. Der Rezensent selbst kennt wenigstens einige, ganz unterschiedliche Leute, von denen er sagen kann, dass sie im „Wegner'schen“ Sinne Hanseaten sind. Sein Buch hilft, sie besser kennen zu lernen – sie wiederzuerkennen. Wenn man – natürlich metaphorisch – ihr Herz auspressen würde, würde man etwas sehr Wertvolles erhalten: eine Art ästhetische und moralische, fast unauffällige, diskrete Qualität, die ich als einen feinen Stolz auf die eigene Großzügigkeit und die Großzügigkeit und Freiheit der anderen definieren würde; eine Art kaufmännische Annäherung an die „humaniora“.

Und sonst noch? Seit Wegners Lektüre flaniert der Rezensent nun in den schon am späten Nachmittag allzu dunklen Bremer Straßen, Brücken und Alleen – H. H. Maier, Wilhelm Kaisen, Bürgermeister Smidt, etc. – vom diskreten Licht des Familiären begleitet.

Matthias Wegner, Hanseaten. Von stolzen Bürgern und schönen Legenden, Siedler Verlag (Berlin, 1999), 459 Seiten