Das Zauberwort „New Economy“

Die Wirtschaft der USA boomt nun schon seit neun Jahren. Flexibles Kapital und Computertechnik lösen das Problem des magischen Dreiecks ■ Von Martin Ling

Berlin (taz) – Anfang Februar geht der Wirtschaftsaufschwung in den USA in sein neuntes Jahr – die längste Wachstumsphase in der US-amerikanischen Geschichte. Während in Deutschland die Wachstumsprognosen für das Jahr 2000 mit rund drei Prozent für hiesige Verhältnisse ausgesprochen optimistisch ausfallen, verzeichnet die US-Ökonomie seit Jahren Wachstumsraten von rund vier bis fünf Prozent. Wo der Bundesfinanzminister Eichel für das Jahr 2006 einen ausgeglichenen Haushalt anvisiert, klettert der Haushaltsüberschuss in den USA auf neue Rekordhöhen – 70 Milliarden US-Dollar im Jahr 1999.

Kurzfristig wagen nur wenige Analysten ein Ende des Booms vorauszusagen und langfristige Prognosen sind entweder zeitlich oder inhaltlich unbestimmt. Aus der Reihe tanzen allerdings jene Optimisten, die glauben, dass die Erfolgsstory nie mehr enden wird. Ihr Zauberwort lautet „New Economy“.

Bisher undenkbar in derGeschichte des Kapitalismus

Das ist die Lehre von der „Neuen Wirtschaft“, die mit der Computergesellschaft die alten ökonomischen Grundregeln vom Zyklus des Auf- und Abschwungs außer Kraft gesetzt habe. Der traditionelle Zielkonflikt im magischen Dreieck zwischen Wachstum, Preisstabilität und Vollbeschäftigung wird quasi magisch aufgelöst. Die These dieser Optimisten ist simpel: Die Computertechnik ermögliche Produktivitätsgewinne, die eine Kombination aus Wirtschaftswachsum und Reallohnsteigerungen bei Preisniveaustabilität erlaube. Eine Konstellation, die angesichts der Geschichte des Kapitalismus bisher undenkbar schien. Schlicht aus dem Grunde, weil der Lohnentwickung immer ein entscheidender Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung zugebilligt wurde, sowohl in Bezug auf die Beschäftigung als auch auf die Inflationsrate. Wenn die Optimisten Recht hätten, wäre die Wirtschaftspolitik aus ihrem Grunddilemma befreit, entweder der Preisniveaustabilität oder der Beschäftigung ihr Hauptaugenmerk zu widmen, eine Wahlmöglichkeit, die in den Siebzigerjahren von Altkanzler Helmut Schmidt noch plakativ formuliert wurde: „Lieber fünf Prozent Inflation als eine Million Arbeitslose.“ Diese Alternative wurde in Theorie und Politik schon längst verworfen und der Preisniveaustabilität mit Verweis auf das Diktat der Finanzmärkte Priorität eingeräumt.

Als Ursachen dieses Zaubers sind überwiegend vier Gründe auszumachen. Neben der Computertechnik wird der flexible Kapitalmarkt angeführt, der auch überdurchschnittlich riskante Investitionen zu finanzieren erlaubt, in der Regel über den in den USA boomenden Venture-Capital-Markt. Bei den Venture-Capital-Investments treten direkte Unternehmensbeteiligungen an die Stelle einer indirekten Kreditbeziehung zu Banken, die bei hohen Risikoeinschätzungen ohnehin gern kneifen und als Geldgeber somit gar nicht in Frage kommen. In den ersten drei Quartalen 1999 betrugen die Venture-Capital-Investments allein 28,6 Milliarden US-Dollar, fast das Fünffache von 1995 (5,8 Milliarden US-Dollar).

Wenn die Frage auf die Person kommt, der der Hauptanteil an diesem Erfolg zuzuschreiben ist, gibt es eine einhellige Antwort: Alan Greenspan, Mythen umwobener Chef der amerikanischen Zentralbank FED. Selbst Oskar Lafontaine pflegte sie als Vorbild für die europäische Zentralbank anzupreisen. Dabei ist Greenspan überhaupt kein Fan von lockerer Geldpolitik. 1995 zog er bei nur geringen Inflationsanzeichen die Zügel mehrfach kräftig an. Daraufhin wurde er als Totengräber der gerade wieder in Schwung gekommenen US-Wirtschaft kritisiert; allein die Konjunktur florierte weiter und der Mythos Greenspan wurde geboren. Seitdem hält er sich mit Zinsänderungen weitgehend zurück und lässt der Wirtschaft scheint’s freien Lauf. Neben Können hat Greenspan aber auch ziemlich Dusel gehabt. Diese Auffassung vertritt zumindest der Wirtschaftsprofessor Gregory Mankiw von der Harvard University. Mankiw billigt dem Notenbankchef zwar zu, einen wirklich guten Job gemacht zu haben, relativiert aber, dass er auch ganz schön Glück mit einer wirklich guten Entwicklung der Wirtschaft gehabt hätte.

Das Problem beim Wunder: die „working poor“

Zu diesem günstigen Umfeld gehört neben dem technologischen Fortschritt und dem Kapitalmarkt auch der Arbeitsmarkt. Gerade in Deutschland zentriert sich die Debatte um die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit auf den Arbeitsmarkt und häufig wird in Anlehung an das US-Erfolgsmodell eine Deregulierung empfohlen. Und unbestritten sind die Erfolgsmeldungen vom US-amerikanischen Arbeitsmarkt beeindruckend. Sieben Millionen Arbeitsplätze wurden allein in den letzten drei Jahren geschaffen und die Arbeitslosenrate ist mit 4,1 Prozent im Dezember 1999 die niedrigste seit 1970. Trotz der knapper werdenden Arbeitskräfte hält sich der Inflationsdruck durch steigende Löhne in Grenzen.

Neben der erwähnten Steigerung der Arbeitsproduktivität ist der flexible Arbeitsmarkt hierfür maßgeblich verantwortlich. Umso mehr Beschäftigte sich in unsicheren Zeitarbeitsverhältnissen befinden, umso geringer ihre Verhandlungsmacht, umso geringer ihre Lohnforderungen. Die Folge ist unter anderem eine zunehmende Lohndifferenzierung. Während der Bulettenbrater bei McDonald’s heute so viel wie vor 20 Jahren verdient, sind die Löhne im Hochlohnsegment massiv angestiegen; das 230 Millionen Dollar Jahreseinkommen des Co-Vorsitzenden der Citigroup, Sanford Weill, im Jahre 1997 gilt als Extrembeispiel. Trotz Wirtschaftswunder gelten so immer noch 5,6 Millionen Arbeiter als working poor, mit einem Stundenlohn von unter 6 US-Dollar und einem Wocheneinkommen von unter 240 US-Dollar. Als Lösung für den deutschen Arbeitsmarkt taugt das US-Modell kaum. Sowohl der Arbeitsmarkt als auch das Sozialsystem müssten in Deutschland total umgebaut werden. Selbst wenn dies gelänge, wäre eine positive Wirkung auf die Beschäftigtenzahl äußerst ungewiss. Denn, was in der aktuellen Diskussion gern unterschlagen wird und Eichelscher Konsolidierungspolitik widerspricht – das amerikanische Beschäftigungswunder ging über Jahre mit steigenden Staatsausgaben einher, die die effektive Nachfrage und damit die Beschäftigung stabilisierten. 1997 wurden allein für staatliche Lohnsubventionierung im Niedriglohnsektor 27 Milliarden US-Dollar ausgegeben und 1999 wurden 35 Milliarden US-Dollar dafür veranschlagt.