Wladimir Putin braucht einen schnellen Erfolg

■ An seiner künftigen Taktik im Tschetschenienkrieg wird sich das politische Schicksal des russischen Interimspräsidenten entscheiden

Ziehst du in den Krieg, prahle nicht“, warnt eine chinesische Weisheit. Die russischen Militärs im Kaukasus haben sich diese Mahnung offensichtlich nicht zu Herzen genommen. Seit den ersten Tagen des zweiten Kaukasusfeldzugs stürmt Moskaus Generalität von einem Sieg zum nächsten. Nur: Der Erfolg bleibt aus.

Die Einnahme der von tschetschenischen Rebellen befestigten Zitadelle Grosny wurde schon für den Jahreswechsel avisiert. Prorussische Tschetschenen-Milizen unter dem Kommando des stellvertretenden Premiers der Moskauer Marionettenregierung Beslan Gantemirow stießen nach Angaben russischer Militärs bereits vor zwei Wochen bis ins Stadtzentrum der tschetschenischen Hauptstadt vor. Seither sind Berichte über die Kämpfe in Grosny aus den Schlagzeilen verschwunden. Der private russische Fernsehsender stellte am Wochenende den offiziellen Verlautbarungen der Armeeführung erstmals Aussagen von Soldaten gegenüber. Demnach gelang es den Freischärlern, den russischenVormarsch zu stoppen.

Überdies macht stutzig: Auch Russlands neuer Interimspräsident und oberkommandierender Brandstifter, Wladimir Putin, bemüht sich, die Erwartungen der Öffentlichkeit vorsichtig zu drosseln: Fristen, wann die Operation abgeschlossen sein solle, beruhigte er am Wochenende seine Krieger, wolle er nicht festlegen.

Wegen der Schweigemauer um Grosny rückte die zweite Front im Süden der abtrünnigen Republik in den Vordergrund. Die russische Armee behauptet, in der schwer zugänglichen Bergregion inzwischen einige strategische Punkte erobert zu haben. Dazu sollen auch Anhöhen in der Nähe der Ortschaft Wedeno gehören.

Die Siedlung von der Größe einer Kleinstadt ist der Geburts- und Wohnort des tschetschenischen Warlords und Volkshelden Schamil Bassajew, der im August in der russischen Nachbarrepublik Dagestan eingefallen war. Auch Rebellenkreise bestätigen gelegentlich partielle Erfolge der Armee sogar in den Bergen. Sind diese Siege indes von Dauer? Die tschetschenischen Freischärler hatten drei Jahre Zeit, um sich auf die russische Intervention vorzubereiten. Sie sind bestens für einen Guerillakampf gerüstet, der sich auch über Jahre hinziehen mag.

Rückzugsgefechte in den Bergen fordern nicht nur immensen Blutzoll, auch das Kriegsgerät geht meist komplett verloren. Gleichwohl scheinen die russischen Generäle hinter den Linien tapfer in die ausgelegten Fallen zu tappen. Die verfrühten Siegesfanfaren haben auch in Grosny noch ein Nachspiel. Anfangs vermied die Armee aus Furcht vor dem Gegner direkten Feindkontakt. Demnächst wird sie nicht darum herumkommen und versuchen, ohne Rücksicht auf eigene Verluste den Sieg zu erzwingen. Damit sind aber nicht die Freischärler ausgeschaltet. Sie ziehen sich in die Berge zurück, werden die Bewegungsfreiheit der Militärs beschneiden und ihnen stetige Verluste beibringen.

Russische Fallschirmjägereinheiten hatten schon vor mehreren Wochen einen Vorstoß an der tschetschenisch-georgischen Grenze lanciert und Vollzug gemeldet. Bis dahin diente die Route durch die Schlucht des Flusses Argun den Freischärlern als Nachschubweg und Schlupfloch auf von Russen nicht kontrolliertes Gebiet. Nach den anfänglichen Erfolgsmeldungen verstummten die Berichte. Halten russische Spezialeinheiten das Nadelöhr im Hochgebirge noch in ihrer Gewalt? Das würde den Krieg nicht endgültig entscheiden, die Verteidigung der Tschetschenen aber erheblich beeinträchtigen.

Trotz der hermetischen Informationspolitik der Armee sickern gelegentlich kritische Nachrichten von der südlichen Front durch. Inzwischen räumt die Generalität auch Verluste der eigenen Mannschaften ein. Ihre Angaben decken sich jedoch nicht mit denen unabhängiger Berichterstatter. Der Fernsehsender NTW mutmaßte am Wochenende, die Armee verliere täglich zehn Mann und habe zwei Dutzend Verwundete. Zum Vergleich: Im Afghanistankrieg starben im Monat 145 Soldaten.

Im Süden, räumten Militärs ein, leisteten die Freischärler erheblichen Widerstand. „Die Aufgabe unserer Einheit ist es, die Banditen davon abzuhalten, aus den Bergen in die Ebene durchzubrechen“, meinte ein Offizier in dem Dorf Awturi dreißig Kilometer südöstlich von Grosny. Offensichtlich scheint sich unter den Soldaten allmählich Unzufriedenheit einzustellen. Viele „Kontraktniki“, Söldner auf Zeit, sollen angeblich nicht mehr bereit sein, ihre Verträge zu verlängern.

Wladimir Putin steht vor einer heiklen Entscheidung. Er kann den Krieg nicht beenden, ohne den entscheidenden Sieg errungen zu haben. Schon gar nicht vor den Präsidentschaftswahlen Ende März. Deshalb könnte er versucht sein, einen Teilerfolg in Grosny als Sieg zu verkaufen und den moderateren Kräften in Tschetschenien Verhandlungen über weitreichendere Autonomierechte anzubieten. Der Zankapfel wäre wieder zurück in Tschetschenien. Sollte unterdessen im Frühling das wahre Ausmaß des fragwürdigen Kriegsgeschicks ans Licht kommen, könnte er von zwei Seiten unter Druck geraten. Von der Armee, die ihre Niederlage eingestehen muss, und einer Öffentlichkeit, die an die kathartische Kraft des Tschetschenienabenteuers geglaubt hat.

Klaus-Helge Donath, Moskau