Sehnsüchte im Promillebereich

Morgen feiert sich die FDP – traditionellerweise. Doch im anhaltinischen Halle, wo die Liberalen nach der Wende noch mehrals 30 Prozent hatten, sehnt man sich nur nach einem: dass nie wieder Wahlen sein mögen ■ Von Thomas Gerlach

Der Teller ist aus Karlsruhe.“ Tief gewölbt und groß wie ein Lenkrad klebt das Porzellan an der Wand, aus der Senke grüßt das badische Residenzschloss wie aus einem Märchen. Karlsruhe, die Partnerstadt, Ziel freidemokratischer Träume in Halle an der Saale. „Die haben bei den Gemeinderatswahlen im Oktober zehn Prozent geholt. Fünf Leute haben die jetzt in der Fraktion. Und einen Bürgermeister!“ Hans Wilhelm Fiedler, Geschäftsführer der FDP-Stadtfraktion, steht in seinem Büro, vor sich den Teller.

Also den Beweis, dass es eine Welt gibt, in der Liberale heute noch zweistellige Ergebnisse einfahren, FDP-Leute in der Landesregierung sitzen und die Partei ernst genommen wird.

Anders als in Halle.

Die Rathausbeamten haben der FDP-Fraktion nach der Wahl im Juni einen Verschlag zugewiesen, eine Schachtel, in der kaum zwei aneinander vorbei gehen können, die Grünpflanze den halben Raum beherrscht, den Rest Papierstapel, und sich nicht einmal für den Computer ein rechter Platz finden lässt. Fiedler, 57, ist Mathematiker. Seine Stirn ist hoch, die Augen leuchten. Drumherum haben Sorgen Falten geschnitzt, über die Brauen, an den Schläfen, auch in die Tränensäcke. „Nach den Wahlen war ich richtig krank. Das Resultat musste ich erst verkraften.“ Die Angst vor körperlicher Versehrtheit spannt dem Mann noch einmal das Gesicht. 4,4 Prozent. Mehr war nicht drin, vor fünf Jahren hatte die FDP doppelt so viel eingefahren. „Nach dem Tiefschlag geht’s jetzt weiter. Es macht wieder Spaß.“ Wie ein Patient nach überstandener Operation scheint sich auch Fiedler vor allem daran zu erfreuen, dass es das alles noch gibt: Partei, Fraktion und Büro, auch wenn das Büro nur noch halb so groß ist, seine Geschäftsführerstelle auch.

„Wenn das nicht stabiler wird, könnte ich verrückt werden!“ Nein, Fiedler beschwört nicht seine Partei, sondern klickt mit der Maus, starrt auf den Bildschirm. Irgendetwas stimmt nicht, immer wieder bleibt der Computer hängen. Dann stellt er ihn aus, Computer sind undurchschaubar. Wähler auch. „Es gibt Strömungen, das ist wie ein Druck, der die Bevölkerung nach der allgemeinen politischen Wetterlage bestimmt.“ Der Mathematiker Fiedler sucht nach der Formel, die den Wähler erklärt.

Wahlen sind für die FDP hier das Gleiche wie andernorts Exekutionstermine. Nach Möglichkeit geht man nicht hin. Die nächste ist für Februar angesetzt: Oberbürgermeisterwahl in Halle. Alle haben ihre Kandidaten präsentiert – SPD, PDS, CDU und eine Wählerinitiative. Alle, außer der FDP. Dabei erhielt ihr Kandidat beim letzten Mal annähernd zehn Prozent. Dieser kleine Sieg ist heute die unüberwindliche Hürde. Wer steigt in den Ring, wo doch klar ist, dass er ein solch hohes Ergebnis nicht einfahren wird?

Rechnen, überschlagen, abwägen. Mathematiker Hans Wilhelm Fiedler ist in seinem Element. „Wir müssen aufpassen, dass wir die eigenen Leute nicht verheizen!“ Bei den Bürgermeisterwahlen in der Nachbarstadt Leipzig erlebte im vorigen Jahr der liberale Kandidat sein Fiasko: Der verfehlte nur haarscharf den Promillebereich. Die politische Vernichtung des Rechtsanwalts haben die Hallenser entsetzt beobachtet. Wer will da der Nächste sein? Auch müsste er die Hinrichtung noch selbst bezahlen. Die Stadt-FDP hat kein Geld.

Das gute Image der FDP, die Prager Botschaft, schlägt nicht nach Halle rüber!“ Hans Wilhelm Fiedler beginnt mit einer neuen Analyse. Der Geist der Prager Botschaft wirkt nicht. Nicht mehr. Dabei ist Hans-Dietrich Genscher hier geboren. Doch an ihn erinnert nichts im Büro. Hans Wilhelm Fiedler beendet die Überlegung, greift seinen Hut und flieht aus dem Gemäuer. Morgen wird er wiederkommen. Freiwillig.

Das Konferenzzimmer im „Schweizer Hof“ ist geräumiger als Fiedlers Büro, gemütlicher ist es nicht. Die Liberalen sind keine gute Partie mehr: Mürrisch schließt die Kellnerin das Zimmer auf. Alte Luft, trockene Astern, grüne Servietten. Die Tischtücher sind weiß, aber nicht frisch, stumpf liegen sie ausgebreitet. Hier haben andere schon gegessen, geraucht, gelacht. Hartmut Schubert kneift die Augen zusammen, mustert alles, raunt: „Bloß gut, dass wir den Laden bald wechseln.“ Schubert hat den Abend organisiert, er leitet das Wahlkreisbüro von Cornelia Pieper, Bundestagsabgeordnete, stellvertretende Parteivorsitzende und Flaggschiff der Halleschen FDP in Berlin. Schubert bestellt ein Bier. Gut, dass es Marktwirtschaft und Demokratie gibt, da kann man abstimmen, wenn’s sein muss, mit den Füßen. Für heute bleiben die Freunde des Liberalen Stammtischs hier und hören sich an, was der Chef der Stadtwerke zu verkünden hat. Der gestriegelte Herr redet über Cash flow, Unterbilanzen, Brüssel, Brennstoffzellen. Mit nachdenklichen Gesichtern hören 15 Liberale zu, kauen an Brillenbügeln, schweigen über das, was ihnen der Manager zum Strommarkt zu sagen hat. „... dann gibt’s da noch den Tarif ,Plus-Plus` für 12,8 Pfennig!“ Bei den Preisen verstehe er, der Chef der Stadtwerke, nicht, warum die Unternehmer immer noch so zögerlich seien. Verschlossene Minen. Ein korpulenter Herr im Zweireiher mit goldenen Kapitänsknöpfen hebt an: „Als Selbstständiger wartet man noch ein bisschen“, und schickt bedächtig hinterher: „Das haben wir in den letzten zehn Jahren gelernt!“ Endlich ist der Energiemanager mit seiner Begleiterin verschwunden, die Liberalen sind unter sich. „Der Markt ist in Bewegung“, sinniert der Korpulente, dann ist der Billigstrom vom Tisch.

„5.000 Mitglieder waren wir, heute sind wir 250“, klagt ein Herr in Lederweste. „Das waren doch aber mehr als die Hälfte Karteileichen!“, wirft ein anderer ein. „Von uns sind auch schon 110 gestorben“, sagt ein Alter. Dann spricht der mit der Lederweste zu sich selbst: „Nach jedem Tief kommt auch wieder ein Hoch, sag ich immer.“ Dann wird er lauter: „Bei der Bundestagswahl 1990 hatten wir hier in Halle 30 Prozent!“ – „34,5!“, meldet sich der Kreisvorsitzende. In diesen Niederungen zählt jedes Prozent. Pfeilschnell war die Zahl über seine Lippen gezischt.

1990 war Halle – ach was, ganz Sachsen-Anhalt – Genscherland. „Es ist wieder Frühling. Und wir sind frei!“, jubelten die Liberalen im März zu den ersten freien Volkskammerwahlen auf Plakaten. DDR-weit fuhren sie zwar nur gut fünf Prozent ein, aber das spätere Sachsen-Anhalt lag darüber, Halle sowieso. Erster Erfolg: Die Liberalen stellten den Justizminister. Im August schluckten dann die knapp 70.000 von der West-FDP die 140.000 Ostliberalen. Und der Geist von Prag war mit dabei, Genscher war wieder in Halle angekommen. Die Partei holte bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt im Herbst über 13 Prozent. Regierungsbeteiligung. Und die 34,5 bei den Bundestagswahlen, zumindest in Halle, und über 13 Prozent in Ostdeutschland. Karlsruhe war überall.

Das ist zehn Jahre her, jetzt ist Winter, knapp 68.000 Mitglieder hat die FDP noch bundesweit, in den neuen Bundesländern sind es 14.600, dort darf sich die Partei die Landtage nur von außen ansehen, und jeder Schluck Bier schmeckt am Liberalen Stammtisch bitter, aber tapfer trinken die Freidemokraten weiter. Der Unternehmer mit den Kapitänsknöpfen hat sich einen doppelten Espresso bringen lassen. „Junge müssen ran! Das läuft doch in Halle gut!“, ruft er in die Runde. Die ist bereits merklich kleiner geworden. Keine Antwort. Aufbruchstimmung. „Übrigens!“ Organisator Hartmut Schubert ergreift noch einmal das Wort: „Wir sind umgezogen. Das Wahlkreisbüro liegt jetzt viel günstiger in der Innenstadt!“ Und ist nur noch ein Viertel so groß.

Lachen in der „Bierbörse“ in Halle, Handys schlummern dienstbereit, die Jungen Liberalen Sachsen-Anhalt trinken tapfer. Friedemann Scholze, Krankenpfleger von Beruf, reicht Fotos von seinem Wahlkampf herum. Auf den Bildern ist Sommer. Scholze, im Leinenanzug, führt einen Gast durch das Krankenhaus. Groß, gebeugt, eine Hand in der Tasche, Scholze immer neben ihm. Tatsächlich, Genscher war hier! Und es hat gewirkt. Friedemann Scholze wurde zum Stadtrat gewählt.

Gerry Kley ist der andere FDP-Stadtrat, er hat den Abstieg glänzend geschafft: Zuerst Abgeordneter der letzten Volkskammer, dann im Landtag von Sachsen-Anhalt, jetzt sitzt er im Rathaus. Und immer noch sympathisch, frisch und elegant – er würde einen Bürgermeisterkandidat abgeben, hätte vielleicht auch das Geld dazu als Geschäftsführer einer kleinen Firma. Niederlagen scheinen dem Biologen nichts anzuhaben. Doch schon wieder kandidieren? „Wir haben bei der Kommunalwahl verloren. Da lässt man sich nicht gleich wieder aufstellen.“ Er sitzt im Café, ganz dicht beim neuen kleinen Büro von Hartmut Schubert. Dort liegen noch massenhaft gelbe Streichholzschachteln, auf denen Kley abgelichtet ist: „Für liberale Jugendpolitik“. Zu dumm, dass auf den Schachteln die Haltbarkeit vermerkt ist: 26. Juni 1994. Mit den kleinen Dingern hätte Gerry Kley noch so manchen Wahlkampf bestreiten können.

Kley hat wenig Zeit, mindestens 20 Stunden pro Woche sei er für die FDP unterwegs. Jetzt auch, der Hauptausschuss warte. Gerry Kley holt den Lodenmantel vom Haken. Mit großen Schritten läuft er über den Marktplatz. Plötzlich hält er inne. Wie ein Stadtführer weist Kley auf den 80 Meter hohen Roten Turm: „Das ist das Symbol des Bürgertums!“, ruft er zwischen Straßenbahnen. Vor 500 Jahren haben ihn die Hallenser erbaut, gegen die Macht des Erzbischofs und höher als jede Kirche hier. Schon zieht Kley weiter Richtung Rathaus. Auf der anderen Seite steht ein gläserner Info-Würfel der Stadtverwaltung, in großen Lettern seine Botschaft: „Karlsruhe lockt!“

Zum Glück hat es Gerry Kley nicht gesehen.