Auf dem Egoexpress

■ Die Hamburger Elektro-Diaspora um das Stora-Label nähert sich Electro mit einem kritischen Verständnis für die Brüche im Pop

Na, wann waren Sie das letzte Mal raven? Vermutlich nicht am 31.12.99. Entsprechend der omnipräsenten Verpflichtung zum Durchdrehen waren die selbstgemachten Partys zum Großwechsel deutlich kleiner und weniger hysterisch als in den Jahren zuvor. Die kapitalistische Grundidee des unaufhörlichen Wachstums ist eben doch nicht auf Kultur übertragbar bzw. lässt in ihrem gleichgeschalteten Wahn fast schon beängstigend große Räume für andere Öffentlichkeit.

Trotzdem – oder gerade deswegen – versinkt (nicht nur) in Hamburg ein Großteil der produktiven pop-politischen Szene in mehr oder minder verklausuliertem Rückzug. Statt auf diskursiven Plattformen begegnet man sich in Baumärkten, schraubt an Heimat und löst den Wunsch nach Distinktion über ein ästhetisches und damit utopisches Konzept von spezifischen Zeichen und Bedeutungsverschiebungen.

Doch es gibt sie, die lokalen Aktivisten, die in diesem Jahr eine nur scheinbar lähmende, tatsächlich aber immer gleiche Umstände eine progressive Art von Expressivität praktizieren. Rundum erfreulich manifestiert sich das bei der stadtflüchtigen Aufbaugruppe Stora, die uns nach ihrer reizenden Verlagsschau Storage seit September im Zweimonatstakt mit unprätentiösen Liebhabereien im flach verpackten Albumformat versorgen.

Diese fortschreitende Veröffentlichungspraxis zeigt, wieviel individueller Ausdruck gerade innerhalb der Kategorien möglich ist. Im Gegensatz zum Zitat&Effekt-Posing sind dies keine Collagen oder Rekontextualisierungen, eher Rekonstruktionen mit anderen Mitteln, Ausdrücke eines kritischen und beweglichen Pop-Verständnisses mit dem immanenten Wunsch, Definitionen zu überschreiten und dabei Spuren zu hinterlassen.

Darum versetzt die Stora-Kerngruppe KissKissBangBang sich und das Publikum live in eine nahezu gabba-eske „einer geht noch“-Ekstase. Das betont elitäre Gegenmodell zur korrekten Spaßguerilla ist der ebenfalls auf Storage vertretene Felix Kubin. Sein Spiel ist die dandyeske Maskerade. Als multiple künstlerische Existenz dockt der provokationsverliebte Impressario nur dort an, wo es ihm nutzt. An der Stora-kompatiblen, psychoscifipoppigen Musik liegt das nicht; hier ist man, auf der Flucht vor der Basisdemokratie, auf dem Egoexpress. Dass sich das gut ergänzen kann, haben einige Veranstaltungen des vergangenen Jahres gezeigt.

Nun, da die Grenzen von Konsum und Produktion (siehe oben) immer mehr verschwimmen, ist Austausch gefragt. Systematische Verfeinerung und grober Unfug. Denken, spielen und vor allem behaupten Sie mit. Gute Unterhaltung.

Holger in't Veld