Status Quo Vadis

■ Berliner Republik auch im Pop: Erstaunlich viele neu entdeckte Lieblingsbands kamen im letzten Jahr aus Berlin. Hier besangen Blumfeld stellvertretend die gute alte Liebe

„Let's forget all about this year“, sangen Stella leider nicht letztes Jahr, sondern schon 1998. Aber hier geht es ja eher darum, was nicht vergessen werden soll vom letzten Jahr. Mal den Kalender durchblättern. Erstaunlich oft, viermal nämlich, stehen da Veranda Music drin. Gesehen habe ich keines ihrer Konzerte. Irgendwie vergessen wohl. Andere Bands habe ich viermal gesehen im vergangenen Jahr. Und brauche keinen Kalender, um mich an jeden einzelnen Auftritt zu erinnern.

Mina! Im Hafenklang, im März, als man noch nicht fürchten musste, nasse Füße dort zu bekommen. Aber die Wände waren etwas feucht, denn es war voll. Weil es die Party eines Fanzines war, an dem ich nicht unbeteiligt bin, machte mich das froh und ein bisschen stolz. Scheiße, für einen Moment dachte ich: Hey, so muss sich Michael Ammer manchmal fühlen! Bis eine Mitstreiterin rief: Hey, du hast Kassenschicht! Aber da hatten Mina zum Glück schon gespielt, die neu entdeckte Lieblingsband aus Berlin – in einem Jahr, in dem deutlich mehr neu entdeckte Lieblingsbands aus Berlin als aus Hamburg kamen. Wie zur Bestätigung stieß Minas Schlagzeuger mitten im Lied einen Freudenschrei aus.

Das macht auch Jochen Distelmeyer manchmal auf der Bühne. Viermal Blumfeld 1999, viermal die entschlossen poppigsten Blumfeld ever in einem Jahr, in dem es mir schwer fiel, zehn durchweg tolle Alben zu nennen, mir aber ohne viel Nachdenken 30 tolle Singles einfielen, von denen die Hälfte sogar in den Charts war. Der Blumfeld-Pop-Schock war mir ein wohliger, gleich im Januar in Lübeck. Der Reiz des Unerwarteten: Wie „Love Is In The Air“ aus „Verstärker“, tja, emporstieg. Wie „So lebe ich“ nicht mehr wortreich, sondern magisch wirkte. Glücklich verliebte Menschen liebten Blumfeld 1999, unglücklich verliebte Menschen konnten sie kaum ertragen, und gar nicht verliebte Menschen sehnten sich danach, verliebt zu sein, wenn sie Blumfeld 1999 hörten. So ist Popmusik.

Vielleicht ist es unfair, hier nicht von Blumfelds Hamburger Konzerten zu erzählen, aber von dem in der Fabrik bleibt vor allem der folgende Eins, Zwo-Auftritt in Erinnerung: wie sympathisch Dendemann durch seinen Umgang mit seinem künstlerisch-handwerklichen Versagen wurde. Und die Erinnerung an das Konzert in der Markthalle ist durch eine scheußliche Erkältung an jenem Abend vernebelt. Die zog ich mir zu bei einem Wochenend-ausflug ins englische Seebad Camber Sands, wo die Indie-Popband Belle & Sebastian ein Festival ganz nach dem Geschmack von Nicht-mehr-Anfang-Zwanzigjährigen aufzog: Man schlief in niedlichen Feriencamp-Appartements mit Kopfkissen, Badewanne und Fernseher. Und die Bands spielten in einem reizenden Saal mit Holzboden namens „Stardust Showbar“, den man durch einen Comic-Oktopus betrat.

Die Sensation des „Bowlie Weekender“ war der Auftritt der Flaming Lips, deren für Ende Januar angekündigter Auftritt in Hamburg leider ausfällt. Kein bärtiger Mann im dunklen American-Weirdo-Mantel also, dem eine Digitalkamera beim Singen in die Nase hineinfilmt. Der eine Handpuppe singen lässt. Der Konfetti wirft. Der Dinge sagt wie: „I hope you will all be happy for the rest of your lives.“ Der einen Gong schlägt. Der früher verschrobenen Psychedelic-Rock spielte. Der 1999 mit Race For The Prize den ergreifendsten Song des Jahres sang.

Das Partylied des Jahres was „14 Zero Zero“ von Console. Auch DJ Hell legte es im Phonodrome auf, wo ich zwischenzeitlich an der Wand lehnte und die Augen schloss. Als ich sie wieder öffnete, sah ich immer noch nichts: Direkt neben mir war die Nebelmaschine. Und dann kam Kozes Remix von Blumfelds „Tausend Tränen tief“. Und spätestens dann war klar, welcher Band dieses Jahr gehörte.

Felix Bayer