Auf dem Holzweg des Bekenntniszwangs

Keine neue Extrawurst: Religion muss in Berlin Privatsache bleiben – wie in fast allen europäischen Staaten ■ Von Ralph Bollmann

Ginge es nach der Verfassung, müsste Deutschland das christlichste Land auf der Welt sein. Wie nirgends sonst sorgt sich der Staat hier zu Lande um das Wohl der großen Religionsgemeinschaften: Er treibt die Mitgliedsbeiträge ein, als wären es staatliche Steuern; er finanziert die theologischen Fakultäten an den Universitäten, obwohl die Bischöfe dort das Sagen haben; vor allem aber bezahlt er die von der Kirche ausgewählten Religionslehrer und verweigert jedem Schüler das Abschlusszeugnis, der diesen Unterricht – ersatzweise das Fach Ethik – nicht besucht hat. Einzige Ausnahmen: In Berlin nehmen die Schüler freiwillig am Religionsunterricht teil, in Bremen werden sie in „Biblischer Geschichte“ unterrichtet, und in Brandenburg müssen sie das weltanschaulich neutrale Fach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ („LER“) besuchen.

„Ausnahmen“? Im europäischen Maßstab tanzen nicht Berlin, Bremen und Brandenburg aus der Reihe – sondern die übrigen 13 Bundesländer, die den Religionsunterricht noch immer mit sich herumschleppen, als hätten sie die westeuropäischen Debatten der vergangenen beiden Jahrhunderte nicht zur Kenntnis genommen.

Als der Staat den Kirchen das Schulwesen vor rund 200 Jahren aus der Hand nahm, duldete er den Religionsunterricht zunächst noch als kirchliches Relikt. In zwei großen Wellen ist die Erziehung zum Glauben seither aus Europas Schulen verschwunden. Wo sich die liberale Lehre der strikten Trennung von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert nicht durchsetzen konnte, machten Entkirchlichung, Einwanderung und konfessionelle Vermischung nach dem Zweiten Weltkrieg dem traditionellen Bekenntnisunterricht den Garaus.

In den Vereinigten Staaten bestimmt das erste Amendment zur Verfassung schon seit 1791, dass sich der Staat in die freie Religionsausübung nicht einschalten darf. Von den staatlichen Schulen bleibt die religiöse Erziehung seither verbannt. Wer seine Sprösslinge dennoch zum Glauben erziehen will, schickt sie in die kirchliche Sonntagsschule.

In Frankreich waren die Pfade zunächst verschlungener – bis die Kleriker 1886 endgültig Unterrichtsverbot erhielten. Mit der Trennung von Kirche und Staat 1905 wurde die Abschaffung des Religionsunterrichts besiegelt. Ein Kruzifix im Klassenzimmer einer öffentlichen Schule wie in Bayern – das wäre jenseits des Rheins undenkbar.

Nicht weniger strikt war die Grenze zwischen Staat und Kirche im jungen italienischen Nationalstaat gezogen, der zwischen 1859 und 1870 auf den Trümmern des Kirchenstaats entstand. Der Papst war über den Verlust seiner weltlichen Macht derart erzürnt, dass er den Gläubigen sogar die Teilnahme an Wahlen verbot. Die staatliche Seite gab sich konzilianter: In Gemeinden ohne ausgesprochen antiklerikalen Bürgermeister wurde der Religionsunterricht an Volksschulen weiter geduldet. Erst Mussolini führte Religion als Pflichtfach auch an höheren Schulen wieder ein. Seit das faschistische Konkordat 1984 revidiert wurde, ist die Teilnahme jedoch freiwillig.

Anders als in den katholischen Ländern, wo die Kirche stets als ärgster Feind des Fortschritts galt, war in den konfessionell gespaltenen Niederlanden zunächst vor allem die Frage umstritten, ob es einen konfessionellen oder einen allgemein-christlichen Religionsunterricht geben solle. Am Ende fand sich eine salomonische Lösung: Religion wurde an öffentlichen Schulen gleich ganz abgeschafft. Die Regelung gilt allerdings nicht für die zahlreichen Privatschulen.

Schwieriger gestaltete sich der Ablösungsprozess in den rein protestantischen Ländern. Dort war die Kirche keine fremde Macht, sondern zumeist eine vom Monarchen selbst geleitete Staatskirche. Deshalb gehörte der Religionsunterricht in Skandinavien noch lange „zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten“, wie die kirchennahe „Theologische Realenzyklopädie“ frohgemut anmerkt. Der konfessionelle Unterricht ist aber auch dort auf dem Rückzug. In den höheren Klassen der schwedischen Schulen wurde er bereits durch ein weltanschaulich neutrales Fach „Religion, Ethik, Lebenskunde“ ersetzt.

Auch Großbritannien, wo der Religionsunterricht seit 1944 Pflicht ist, konnte sich dem säkularen Trend nicht entziehen. Seit 1988 sind nicht mehr die Kirchen, sondern die lokalen Schulbehörden für den Lehrplan verantwortlich. Er soll neben der christlichen auch die Traditionen der anderen in Großbritannien zugelassenen Religionen berücksichtigen.

Als Pflichtfach hat der Religionsunterricht offenbar nur dann eine Zukunft, wenn er in ein interkulturelles Fach für alle umgewandelt wird. Allein Deutschland hält das Fähnlein des Pflichtfachs mit Bekenntnischarakter, wenn auch mit der Alternative Ethik, weiter hoch – obwohl es seit dem Krieg keine konfessionell homogenen Gemeinden mehr gibt und die Gläubigen in Großstädten wie Berlin längst eine Minderheit sind.

Doch gerade aus dem einst oppositionellen kirchlichen Milieu wird die Frage laut, ob die spezifisch deutsche Form der Verquickung mit dem Staat der Kirche überhaupt nützt. Verdutzt sehen sich viele Bürgerrechtler von der „Kirche im Sozialismus“ à la Manfred Stolpe in ein System versetzt, in dem die Distanz zwischen Kirche und Staat kaum größer ist. Kein Wunder also, dass es just die engagierte Kirchenfrau Marianne Birthler war, die als brandenburgische Bildungsministerin das Fach „LER“ gegen den heftigen Widerstand der Amtskirche durchsetzte.

Derzeit deutet alles darauf hin, dass sich die unselige Verquickung von privater Moral und öffentlicher Gewalt in Deutschland für die beiden großen Kirchen bitter rächt. Dank des Kirchensteuersystems konnten sie sch lange in einer trügerischen Sicherheit wähnen: Der Staat führte ihnen die Beiträge auch jener Mitglieder zu, die sich innerlich längst verabschiedet hatten. Die Austrittswelle führt die Bistümer nun an den Rand des finanziellen Ruins. Die Religionsgemeinschaften anderer Länder, die sich schon immer aus eigenen Einnahmen und den Spenden wirklich Gläubiger finanzieren mussten, sind davon weit weniger betroffen. Mit ihrem Pochen auf die Verfassung erweisen die deutschen Bischöfe ihren Kirchen einen schlechten Dienst.