Schüttelnund Backen

Henning Harnisch

Vor drei Wochen habe ich meinen Bruder, der in Barth am Bodden wohnt, besucht. Er wohnt dort nicht freiwillig, doch als junger Lehrer muss man wohl oder übel umdenken. Seine Leidenschaft, das Segeln, hilft ihm, Skinheads, die in Vorräumen von Sparkassen abhängen, zu ertragen. Im Winter ist es schwer mit dem Segeln, dann muss man sich dort arrangieren. Also fuhren wir in den Nachbarort, zum Badmintonspielen.

■ Wann war der Spaß vorbei? War es, als die Geschichten aufhörten?

Wie allgemein unter Brüdern üblich, pflegen wir eine lange Tradition des sportlichen Austauschs und machten als Kinder nach und nach alle Ballsportarten, die man zu zweit so spielen kann, durch, vom Hobbyraum-Klassiker Tischtennis (er: Engelbert Hüging, in der Abwehr, ich: Peter Stellwag, im Angriff – „Uh!“ – „Ah!“) über Straßentennis (ich: McEnroe, er: Connors – „Forty-Fifteen, Connors to serve!“) bis zum Cricket, als Konsequenz eines langweiligen Sommerurlaubs in Cornwall 1980 mit selbst gebasteltem Schläger und fast perfekter Wurfhaltung (Namen, Regeln?). Das ist lange her.

Kaum in der Badminton-Halle angekommen, musste ich einsehen, dass einerseits mein Bruder fit war und andererseits Badminton wirklich nichts mit Federball zu tun hat. Früher wäre es kein Problem, eher ein Ansporn gewesen, mir die Tricks und Finten, die mein Bruder draufhatte, im leidenschaftlichen Spiel selbst anzueignen. Früher. Vor drei Wochen aber, unserem ersten sportlichen Treffen seit ...?, reagierte ich müde und lauffaul auf sein souveränes erst Stop-, dann Lang-Spiel. Mein Bruder versuchte alles, mich zu reizen: Er bot Wetten an, er beleidigte mich, er versuchte, meinen Stolz zu kitzeln; keine Wirkung. Nach 15:3, 15:3 („Komm, noch nen Satz!“) und 15:3 gab er es auf. Wir einigten uns auf die Zwecklosigkeit unseres Spiels und brachen ab.

Auf der Heimfahrt, Orkanböen schüttelten unser Auto in der Dunkelheit, wurde geschwiegen. Erst später, bei einer Apfelsaftschorle in seiner Wohnung, fragte er mich, was denn los sei. Ich zögerte, dann brach es aus mir heraus: „Jörg, ich habe alles versucht: Tennis mit den Kumpels, Fußball mit den tazlern, Basketball mit den Jungs, alles zwecklos, es macht keinen Spaß mehr.“ Schweigen. Mein Bruder, Sportlehrer aus Leidenschaft und ehemaliger Volleyballer, öffnete zwei Bierchen. „Keinen Spaß?“ Ich schüttelte den Kopf. „Das ist Scheiße“, sagte er lakonisch. Ich nickte. Er fragte nicht weiter, sondern verlagerte das Gespräch in Richtung Eltern.

Auch am nächsten Tag ließ er sich außer eines eingeworfenen „Na, wie wär’s mit Badminton?“ zu keinen weiteren Fragen mehr in diese Richtung hinreißen. Nur sein Blick, der war ein wenig traurig. Meiner auch, als ich später durch unwirtliche Städte und verregnete Landschaft mit dem Zug zurück nach Berlin fuhr. „Keinen Spaß?“, so hallte die Frage nach, die ich so entschieden bejahen musste. Keinen Spaß mehr am Spiel, das mir die Möglichkeit gegeben hatte, meine Kindheit um lockere zehn Jahre zu verlängern. Keinen Spaß mehr am spielerischen Wettkampf; dem Schwitzen und Lachen; dem Ärgern und Freuen; dem Fluchen und Erzählen.

Ich überlegte, wann der Spaß vorbei war. War es, als die jungen Basketball-Profis anfingen, Fußballern zu ähneln? War es, als die Geschichten aufhörten, als keine Geschichten mehr erzählt wurden? Geschichten von Spielern wie Bernd „Lutscher“ Kimbel, der für eine Pizza und eine Cola hundert Dunkings am Stück machte und danach dicke Bänder hatte, aber seine Pizza und seine Cola, die konnte er bestellen und gleich noch zehn Bier dazu, weil man doch sonst so lange warten musste? War es, als man von den gegnerischen Spielern nur noch Statistiken kannte und nicht mehr deren peinliche Vorlieben, die man dann an der Freiwurflinie zum Besten geben konnte?

Keine Ahnung. Keine Ahnung auch, ob das in irgendeinem Zusammenhang steht mit der Unlust, Fußball im Fernsehen zu gucken, und stattdessen der Sportschau, auf die sich alle einigen konnten (mussten), nachzutrauern. Keine Ahnung, irgendwas ist aber auf dem Weg definitiv verloren gegangen. Doch vielleicht ist das alles gar nicht so traurig, denn wir leben ja in der Spaßgesellschaft.