Pelé fehlt bei Kaisers und Königs

Wie sich eine obskure Organisation von Statistiksüchtigen mit der Präsentation zur Wahl der JahrhundertfußballerInnen Reputation verschaffen will ■ Von Matti Lieske

Rotenburg a. d. Fulda (taz) – Die Fußballer des 20. Jahrhunderts sind nicht gut zu sprechen auf den Zustand ihres Sports an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. „Dass wir mit dem Niveau der deutschen Nationalmannschaft in den letzten Jahren nicht so zufrieden sind, ist ja bekannt“, sagt Franz Beckenbauer, Dritter bei der Jahrhundertwahl, deren Präsentation am Dienstag in Rotenburg an der Fulda stattfand, fügt aber munter hinzu: „Es ist gut möglich, dass wir im Juni den Europameistertitel verteidigen.“ Denn: „Die anderen sind auch nicht besser.“ Johan Cruyff, die Nummer zwei, pflichtet bei. „Das technische Niveau ist nicht sehr gut“, sagt der Niederländer, „sodass eine Mannschaft mit einer guten Taktik und guter kämpferischer Einstellung immer Möglichkeiten hat.“

Zur vernichtenden Einschätzung aktueller europäischer Ballkunst passt, dass bei der Wahl der „Spieler des Jahrhunderts“ mit Lothar Matthäus (15.), George Weah (27.) und Franco Baresi (33.) nur drei Vertreter der Neunziger unter den ersten Fünfzig landeten, weit entfernt von den vorderen Plätzen. Wobei Matthäus und Baresi sogar noch eher in die Achtziger gehören. Ein passendes Stichwort für Johan Cruyff. „Wenn ich nach Deutschland schaue“, so der 52-Jährige, „höre ich immer Matthäus. Wo sind die jungen Spieler?“ Natürlich liegt die mangelnde Präsenz zeitgenössischer Spieler bei den Jahrhundertwahlen auch am veränderten Fußball, der kollektiver geworden ist und es den Stars weniger erlaubt, Matches ihren Stempel aufzudrücken, sowie am größeren körperlichen Verschleiß, der häufige und lange Verletzungspausen bei Stars wie Ronaldo, Zidane, del Piero oder Juninho mit sich bringt. Cruyff zufolge liegt es auch daran, dass es „nicht die technischen Möglichkeiten gibt, die man haben sollte“. Und darüber, so der Niederländer, „machen wir Älteren uns große Sorgen“.

Nur konsequent, dass der ehemalige Trainer von Ajax Amsterdam und FC Barcelona sich inzwischen der Jugendarbeit zugewandt hat. In seinem Wohnort Barcelona und in Amsterdam betreibt er Nachwuchsprojekte, versucht eine Integration von sportlicher und schulischer Ausbildung abseits der Vereine zu realisieren und setzt auf moderne Varianten des Straßenfußballs. Nicht die berühmte Ajax-Schule führt Cruyff als Muster für den Jugendfußball an, sondern Streetsoccer. Die beiden besten Spieler im Finale des letzten großen Turniers auf dem Dam in Amsterdam seien zum Beispiel Jungs gewesen, die keinem Klub angehörten. Etwas konventioneller geht Franz Beckenbauer die Sache an. Er sieht nach wie vor den Verein als verantwortliche Stelle und schwärmt vom französischen Modell, wo die Klubs nur eine Lizenz bekommen, wenn sie ein eigenes Fußball-Internat betreiben. „Man muss die Jugendlichen beschäftigen“, sagt der 54-Jährige, „zwei-, dreimal Training pro Woche reicht nicht mehr.“ Wenn es schon keine Internate gebe, sei eine Kooperation mit der Schule wichtig, sodass die Talente von Montag bis Freitag täglich trainieren könnten und am Wochenende in ihren Vereinen spielen. Das Wichtigste indes, gibt Johan Cruyff zu bedenken, sei, „dass Fußball Spaß macht“. Bei ihm sei das jedenfalls stets so gewesen. Seinem Sohn habe er immer scherzhaft gesagt: „Du gehst in die Schule, ich gehe Fußball spielen.“ Ein simples Rezept, wie man zum zweitbesten Kicker des Jahrhunderts wird.

Vielleicht hätte ja die Nummer eins etwas mehr Optimismus in die Debatte gebracht, kommt der Betreffende doch aus einem Land, das großartige Fußballer hervorsprudelt wie ein Springbrunnen Wassertropfen. Doch der Brasilianer Pelé machte lieber Familienurlaub, statt an der Ehrung in Rotenburg teilzunehmen. Symptomatisch für eine Veranstaltung, bei der nicht nur das Unterhaltungsprogramm eher zweitklassig war. Zu Beginn waberte Rauch durch die Halle, verhuschte Laserstrahlen zuckten ziellos umher, und dumpfe schwülstige Musik erfüllte den Raum. Was eine richtige Gala sein will, muss offenbar daherkommen wie ein Boxkampf von Henry Maske. Und eine richtige Gala wollte sie zelebrieren, die Internationale Föderation für Fußball-Historie und Statistik (IFFHS) des Alfredo W. Pöge, der seit 1984 darum ringt, seiner Organisation weltweite Anerkennung zu verschaffen. Fußballerische Statistik-Maniacs aus zahlreichen Ländern hat er inzwischen um sich geschart, die IFFHS gibt verdienstvolle Werke heraus wie soeben den Band mit den englischen Länderspielen von 1872 bis 1940 und den irischen von 1924 – 1940. Zentrales Mittel zur Reputationsmehrung ist jedoch die alljährliche Vergabe jener Fußballtitel, die noch nicht von anderen Institutionen monopolisiert sind, samt zugehöriger Ehrung. Diese steht und fällt mit den angereisten Preisträgern, und da sah es auch im Zeichen der Jahrhundertwahl eher mau aus. Es fehlten: Fußballer des Jahrhunderts (Pelé), Fußballerin des Jahrhunderts (Mia Hamm), Vereinstrainer des Jahres (Alex Ferguson), Nationaltrainer des Jahres (Wanderley Luxemburgo), Schiedsrichter des Jahres (Pierluigi Collina), Topscorer des Jahres (Raúl), dazu Trophäengewinner wie Alfredo di Stefano (Nummer 4 des Jahrhunderts), Diego Maradona (Nr. 5), Michelle Akers (Nr. 2), Heidi Mohr (Nr. 3) oder Dino Zoff (Nr. 3 der Torhüter). Gekommen waren neben Cruyff und Beckenbauer immerhin die Witwe von Lew Jaschin (Jahrhundert-Torhüter Nr. 1), der Sohn von Ricardo Zamora (Nr. 5) und leibhaftig Gordon Banks (Nr. 2), Sepp Maier (Nr. 4) sowie Oliver Kahn (Welttorhüter des Jahres).

„Torhüterverstand“ bescheinigte Sepp Maier den Juroren – Ex-Nationalspieler, Trainer, Historiker, Journalisten von allen Kontinenten – denen es auch zu verdanken ist, dass endlich die Frage der stärksten Liga der Welt geklärt ist: Nicht die Bundesliga (Platz 5), sondern die italienische Serie A. Von einer fußballerischen Oscar-Verleihung ist die „World Football Gala“ noch einige Hollywood-Boulevard-Längen entfernt, zu einem halboffiziellen Status hat sie es aber immerhin gebracht. Gleich zwei Vizepräsidenten der Fifa, der Spanier Villa und der zwielichtige Jack Warner aus Trinidad und Tobago, waren angereist, und auch die Ehrung der Vereinsmannschaft des Jahres, Manchester United, wurde in Rio bei der Klub-WM von der Fifa vorgenommen.

Ohne Zweifel ist die IFFHS dem angestrebten Status als offizielle Zahlenschmiede des Weltfußballs ein Stück näher gekommen. Nun müssen nur noch Pelé, Maradona und Mia Hamm davon überzeugt werden.