Wenn es dunkel wird in Fredersdorf

Als ich zurückging, war es stockfinster. Unter der Laterne, ein paar Meter von meinem Auto entfernt, warteten sie schonauf mich: der Typ mit dem Schäferhund, eine ältere Frau und drei etwas jüngere Männer ■ Von Richard Rother

Es war einer jener trüben Wintertage, an denen man sich fragt, wozu man aufstehen soll. Der vernünftigste Grund schien noch der, morgens um zwölf in der Bar an der Ecke einen Gin zu schlürfen, sonnig-warmen Grooves lauschend. Kreuzberger Tage sind lang!

Dummerweise folgte ich nicht meinen Wünschen, sondern las eine Lokalzeitung. Darin empfahl ein Arzt, der offenbar seine Einkünfte mit Ratgeberartikeln aufbessern muss, man solle sich, um Infekten und Depressionen vorzubeugen, gerade im Winter an der frischen Luft dem Tageslicht aussetzen. Licht!

Ich warf also die Scheinwerfer an und fuhr raus aus Berlin. Immer gen Osten, eine rot leuchtende Lichtsignalanlage nach der anderen passierend. (Die vielen neuen Ampeln hat man installiert, um den Leuten aus den neuen Reihenhaussiedlungen im Grünen die Chance zu geben, auch auf die Ausfallstraße zu kommen.) Vor der Stadt – früher hieß das jwd, heute Speckgürtel – hoffte ich, auf weiten, mit Schneematsch bedeckten Feldern das Licht und die Ruhe zu finden, die meine Abwehrkräfte brauchten, wie der Zeitungsarzt wusste.

Das sollte mir nicht schwer fallen, dachte ich. Schließlich kannte ich jede Ecke, jedes Feld und jeden Hain in dem Dorf, das ich vor gut zehn Jahren verlassen hatte, weil um neun Uhr abends die Lichter der Straßenlaternen ausgingen. Ich stellte mein Auto auf einer jener unbefestigten Straßen ab, auf denen die Anwohner ihren Bauschutt noch heute mit der Begründung entsorgen, damit die immensen Löcher schließen zu wollen. Dann schritt ich rasch – wegen eines Staus hatte ich Zeit verloren, und es dämmerte bereits – den Weg auf den Feldrand zu, nicht ohne einen wässrigen Blick auf die Lichter im Haus meiner Moped-Sozius-Liebe zu werfen.

Kurz vor dem Feldrand begegnete mir ein älterer Mann, der seinen Schäferhund ausführte und mich ziemlich misstrauisch beäugte. In Gedanken versunken, lief ich weiter und trällerte das wunderbare Funny-van-Dannen-Lied von den Genen vor mich hin: „Gene kommen, Gene gehn, ich kann die Gene gut verstehn. Homogen, telegen, fotogen, Gassi gehn – hallo Gen, auf Wiedersehn...“ Da haben wir’s, dachte ich, wer nichts mit seinen Genen anfangen kann, geht Gassi...

Plötzlich – ich erschrak – sprang mir ein wild kläffender Köter von links entgegen, biss in den Maschendraht des Zaunes, knurrte grimmig und begleitete mich, böse bellend, die gesamte Grundstücksbreite entlang. Scheiß Köter, dachte ich. Und alles nur, weil diese Idioten denken, ihnen wolle jemand das Heu aus dem Karnickelstall, den Aldi-Schweinebraten aus der Tiefkühltruhe oder das verrostete Diamant-Fahrrad vom Hof klauen! Und das, wenn ich meine Ruhe haben will!

An der nächsten Straßenecke begegnete mir – rein zufällig – der Typ mit dem Schäferhund. Der Ausflug wurde langsam nervig. Schnurstracks lief ich aufs Feld hinaus, kaum den Weg erkennend. Es half nichts, der Mann verfolgte mich. Ich rutschte und schlitterte, rannte fast und brach durch das dünne Eis der gefrorenen Pfützen, die ich nicht mehr erkennen konnte. Es war jetzt schon fast dunkel.

Ich erreichte die illegale Mülldeponie, ich hatte es geschafft – der Typ mit dem Köter musste umgedreht sein. Er war, so weit man im letzten Tageslicht erkennen konnte, verschwunden. Ich hatte endlich Ruhe. Jedenfalls vor den Dörflern. Jetzt erst merkte ich: Die Hochspannungsleitung surrte, die Autobahn dröhnte in der Ferne, und im neu errichteten Glaswerk brummten die Maschinen.

Als ich zurückging, war es stockfinster. Unter der Laterne, ein paar Meter von meinem Auto entfernt, warteten sie schon auf mich: der Typ mit dem Schäferhund, eine ältere Frau und drei etwas jüngere Männer. „Was schleichen Sie hier herum?“, fragte der eine drohend. Ihm könne scheißegal sein, wo und wann ich spazieren ginge, meinte ich.

Ich bräuchte gar nicht so frech sein, man habe meine Autonummer schon notiert und die Polizei verständigt, sagte einer der Jüngeren und funzelte mir mit der Taschenlampe ins Gesicht: „Sie haben sich verdächtig verhalten, wir passen auf. Hier treibt sich genug Gesocks rum, das klaut.“ Das Licht reizte mich: „Passen Sie lieber auf Ihre rechtsradikalen Gören auf, die hier ständig Menschen umbringen!“

„Warum habt ihr ihm nicht die Reifen zerstochen, damit der nicht mehr abhauen kann?“, rief die Frau. „Was ist denn hier los?“, meldete sich ein grobschlächtiger Kerl hinter der Hecke. „Habt ihr einen Zigeuner erwischt?“ Der Typ mit dem Schäferhund schüttelte den Kopf. „Was wollen Sie überhaupt hier?“, fragte er, mir zugewandt. Der Köter knurrte.

Ich beschloss einzulenken. Ich sei in der Gegend aufgewachsen und jetzt spazieren gegangen, sagte ich. Wie ich denn heiße, fragte einer. Das würde ich nicht sagen, antwortete ich und nannte statt dessen die Namen, die jeder kennen musste im Dorf: den vom alten Bäcker, meiner Deutsch- und Russischlehrerin, dem Direktor und so weiter. Dann erzählte ich, auf welcher Wiese ich gebolzt hatte und auf welchem Tümpel ich Schlittschuh gelaufen sei. Die Männer schauten ungläubig, aber irgendwie erleichtert drein. „Das kann man alles auswendig lernen“, bläkte die Frau. Am Himmel flog ein Flugzeug.

„Früher gab’s hier Tiefflieger“, sagte ich. „Jeden Dienstag, Donnerstag und Sonnabend; die S-Bahn fuhr alle 20 Minuten nach Berlin – um 5, 25 und 45, der Bus alle zwei Stunden zum Bahnhof, der erste morgens um dreiviertelfünf; im Sommer waren die Schrippen schon um neun ausverkauft, wegen der Berliner auf den Datschen...“

Dann ging ich zum Auto. Die Frau brabbelte etwas wie „Stimmt alles“, die Männer standen unentschlossen herum. Ich schloss die Fahrertür auf, setzte mich und fuhr los. Auf der Hauptstraße blendeten mich Lichter – Blaulichter.