Hilft Migration den Rentenkassen?

Nach einem UN-Bericht braucht Deutschland pro Jahr 500.000 Einwanderer, nur um die gegenwärtige Bevölkerungszahl zu halten ■ Von Eberhard Seidel und Markus Wierz

Berlin (taz) – Angesichts sinkender Bevölkerungszahlen sollte Europa nach einem Bericht der Vereinten Nationen in Erwägung ziehen, erheblich mehr Einwanderer als bisher aufzunehmen. Allein Deutschland bräuchte pro Jahr 500.000 Einwanderer, nur um die gegenwärtige Bevölkerungszahl zu halten.

Das reicht allerdings nicht aus, um die Überalterung der Gesellschaft zu stoppen, so das Ergebnis des UN-Berichts „Ersatz-Migration: Eine Lösung für zurückgehende und alternde Bevölkerung?“, der im März veröffentlicht werden soll. Den Zahlen zufolge sinkt die Bevölkerungszahl in Deutschland von derzeit 82 Millionen auf 73 Millionen im Jahr 2050. Migration liefere zwar Sofortlösungen, funktioniere jedoch langfristig nicht als Lückenbüßer, erläuterte Thomas Büttner, Koautor der Studie.

Joseph Chamie, Direktor der Abteilung für Bevölkerungsfragen bei der UN, erwartet, dass der Bericht in Europa eine heftige Debatte auslösen wird. Zumindest in Deutschland reagiert man indes gelassen. Die Zahlen sind seit Jahren in der Diskussion und entsprechen im Wesentlichen den nüchternen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes. Es ist Konsens: Deutschland braucht Zuwanderung, falls sich an der augenblicklichen Geburtenrate und der absehbaren Überalterung der Bevölkerung nichts ändert. Allein ab wann und in welchem Ausmaß Deutschland Zuwanderung braucht, ist und bleibt umstritten.

Im Bundesinnenministerium winkt man angesichts von vier Millionen Arbeitslosen ab. Darüber hinaus möchte man erst einmal abwarten, welche Auswirkungen die EU-Erweiterung auf die Wanderungsbewegungen innerhalb der Gemeinschaft hat, erklärt ein Sprecher des Ministeriums.

Auch deutsche Bevölkerungswissenschaftler stimmen der UN-Schätzung, 500.000 Einwanderer pro Jahr, nicht umstandslos zu. Herwig Birg von der Universität Bielefeld weist darauf hin, dass es für eine Gesellschaft nicht darauf ankommt, die Bevölkerungszahl, sondern die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit zu erhalten: „Zu glauben, Migration sei langfristig ein wirksames Mittel gegen den Bevölkerungsschwund, ist ein Trugschluss.“ So sei hinreichend belegt, dass sich die ursprünglich höheren Geburtsraten der Einwanderer schon nach kurzer Zeit den Verhältnissen im Aufnahmeland anglichen.

„Wenn Deutschland ernsthaft auf den Bevölkerungsrückgang reagieren möchte“, so Birg, „dann wäre es an der Zeit, dass die Politik ein Bevölkerungsbewusstsein ähnlich dem Umweltbewusstsein der 70er-Jahre schafft.“ Denn einzig und allein höhere Geburtenraten seien langfristig ein wirksames Mittel gegen die Überalterung der Bevölkerung.

Auch Ralf Ulrich von der Humboldt-Universität in Berlin hält sinkende Bevölkerungszahlen nicht notwendigerweise für problematisch. Im Gegenteil. Sie könnten sogar zur Entspannung auf dem deutschen Arbeitsmarkt führen. Ein Problem sei einzig die Überalterung einer Gesellschaft, weil dadurch geistige und wirtschaftliche Innovationskraft verloren gehe. „Mit der Überalterung der Gesellschaft nimmt die Attraktivität Deutschlands als Wirtschaftsstandort ab. Die Deutschen werden im internationalen Vergleich zu teuer“, glaubt Ulrich.

Auch dieses Szenario hat die UN durchgerechnet. Um das derzeitige Zahlenverhältnis von Menschen im berufsfähigen Alter und Rentnern erhalten zu können, bräuchte Deutschland bis zum Jahr 2050 mehr als 188 Millionen Einwanderer. Eine unvorstellbare Zahl, die nach anderen Lösungen verlange, so Büttner.

Welchen Weg die westlichen Industrienationen aus ihrem demografischen Dilemma wählen, dazu möchte die UN keine Empfehlungen geben. Joseph Chamie verweist nur darauf, welche Folgen es hat, wenn die gegenwärtigen Zuzugsraten beibehalten werden: „Es gibt dann nur drei, vier Dinge, die man tun kann: das Rentenalter anheben, die Renten kürzen, die Zahlungen erhöhen oder das ganze System ändern.“

Derzeit sieht es nicht danach aus, dass dieser Teufelskreis mit Hilfe erhöhter Zuwanderung durchbrochen werden könnte. Innenminister Otto Schily (SPD) sieht die Grenzen der Belastbarkeit bekanntlich bereits erreicht. Marieluise Beck (Grüne), Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, verwies kürzlich darauf, dass in den letzten beiden Jahren mehr Menschen aus Deutschland aus- als einwanderten. Eine Einigung darüber, welche Eigenschaften und Qualifikationen die Gesellschaft von Zuwanderern erwartet, steht aus.