Russische Propagandafront knickt ein

■ Verluste der Moskauer Truppen im Tschetschenienkrieg sind weit höher als bislang zugegeben. Heftige Kämpfe um Hauptbahnhof in Grosny. Interimspräsident Putin stellt nationales Sicherheitskonzept vor

Moskau (taz) – Die Siegeshymnen der russischen Generalität besangen die Einnahme der tschetschenischen Festung Grosny schon lange im Voraus. Bereits zum Jahreswechsel, versprach die Armee, werde auf den Trümmern der Geisterstadt Russlands Trikolore wehen. Inzwischen sind die Einschätzungen nüchterner geworden. Gestern räumte die Armee steigende Verluste in den eigenen Reihen ein.

Demnach fielen allein in den vergangenen zehn Tagen 84 Soldaten, 180 weitere wurden verletzt. Seit Beginn der Offensive im September sind nach offiziellen Angaben insgesamt 546 Angehörige der Sicherheitskräfte ums Leben gekommen und 1.583 verwundet worden. Damit bestätigt die Armeeführung indirekt, dass die Verluste im Kaukasusfeldzug inzwischen das Niveau des Aghanistankrieges erreicht haben. In dem zehn Jahre währenden Partisanenkampf starben jeden Monat 145 sowjetische Soldaten. Unabhängige Beobachter und das „Komitee der Soldatenmütter“ vermuten unterdessen, dass die offiziellen Verluststatistiken erheblich geschönt werden. Nach ihren Schätzungen dürfte die tatsächliche Zahl der Opfer das Vierfache betragen. Im Gegensatz zu den ersten Monaten des Tschetschenienkrieges verheimlicht die Armee inzwischen Verluste jedoch nicht mehr grundsätzlich. Dass die Armeeführung die russische Öffentlichkeit langsam auf einen längeren und blutrünstigeren Krieg vorbereiten wolle, ist jedoch als Spekulation zu betrachten. Ihr hatte Interimspräsident Wladimir Putin letzte Woche bereits vorgebeugt und der Armee „keine konkrete Frist“ setzen wollen, wann der Feldzug abgeschlossen sein müsse. Dennoch ist anzunehmen, dass der Thronanwärter ein erfolgreiches Ende des Krieges noch vor den Präsidentschaftswahlen begrüßen würde. Eine Wende des Kriegsglücks und sich stapelnde Särge könnten den Wahlgang noch zu seinem Ungunsten beeinflussen.

Hohe Opfer fordert vor allem der blutige Häuserkampf in Grosny. So musste der Stab des nordkaukasischen Wehrkreises in Mosdok in den letzten Tagen zusätzliche Transportflugzeuge einsetzen, um die unverhältnismäßig vielen Verwundeten abzutransportieren. Vorgestern hatten tschetschenische Rebellen im Süden der Hauptstadt einen Korridor erobert, über den sie ungehindert Verstärkung und Nachschub organisieren können. Die Armeeführung behauptete gestern indes, es sei ihr gelungen, die Rebellen zurückzuschlagen und den Korridor zurückzuerobern. Die elektronischen Medien Russlands hatten die Ereignisse des Vortages mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt. Überdies behaupten russische Quellen, 350 Elitesoldaten des Moskauer Innenministeriums hätten gestern den Bahnhof in Grosny eingenommen, der sich in der Nähe der Residenz des tschetschenischen Präsidenten Alsan Maskhadow befindet. Die Angaben konnten bisher nicht überprüft werden. Wegen der schlechten Nachrichtenlage und der bewussten Behinderung der Berichterstatter durch russische Behörden ist es schwierig, ein klares Bild der angeblichen russischen Erfolge zu erhalten.

Interimspräsident Wladimir Putin unterzeichnete gestern ein neues Sicherheitskonzept. Zur Verteidigung der nationalen Sicherheit will sich Moskau künftig verstärkt der Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kriminalität widmen. Das bislang unveröffentlichte Konzept soll auch außenpolitischen Überlegungen Rechnung tragen. Moskaus Vorstellungen von einer „multipolaren Welt“, die sich der Dominanz der USA auf Dauer entzieht, soll in dem Entwurf ebenfalls berücksichtigt worden sein. Klaus-Helge Donath

Interview Seite 10