Jesus auf den zweiten Blick

Nach einem kurvigen Lebensweg „wieder zu Hause“: Annegrethe Stoltenberg ist neue Landespastorin und Chefin der Diakonie  ■ Von Sandra Wilsdorf

Man sieht sich immer zweimal im Leben. Oder: Liebe auf den zweiten Blick. Oder: Jesus und Annegrethe Stoltenberg. Mit Anfang 20 hat sie sich für Marx, Sartre und Camus entschieden und ist aus der Kirche ausgetreten. Morgen führt Bischöfin Maria Jepsen die inzwischen 49-Jährige als Landespastorin und Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werkes Hamburg ein. Ein Lebensweg und seine Kurven.

Nun ist Annegrethe Stoltenberg angekommen. Fürs Erste. Sie ist wieder zu Hause in Hamburg. Und sie hat eine Aufgabe, die sie „wunderschön“ findet. Stoltenberg ist Nachfolgerin von Stephan Reimers, jetzt Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union in Berlin. Damit tritt sie das Erbe eines Mannes an, der der Stadt Hamburg jedes Jahr eine gute Idee und ihre Umsetzung geschenkt hat: Hinz & Kunzt, das Spendenparlament, die Rathauspassage und den Mitternachtsbus.

Erfolgsdruck?: „Dass ich nicht Stephan Reimers bin, ist offensichtlich“, sagt sie. Stimmt. Sie ist eine Frau, eine, die viel und gerne lacht, die große braune Augen und eine eigene Persönlichkeit hat und sich nicht mit dem hochverehrten Vorgänger vergleichen lässt. Dass sie seine Wunschkandidatin war, macht ihr die Sache trotzdem leichter: „Es ist toll, so einen lebendingen Organismus wie diese Diakonie zu übernehmen.“ Die fühlt sich für sie an wie „ein heller, gut durchlüfteter Raum“. Hier arbeiteten Menschen, die hochmotiviert seien, weil ihre Arbeit öffentliche Anerkennung fände. Annegrethe Stoltenberg will dabei eigene Akzente setzen: „Ich sehe einen Schwerpunkt in der Kinder- und Jugendarbeit“, sie denkt an ein Sport-Projekt für Jugendliche, die eine Gewaltproblematik haben.

Verändern will die neue Chefin erstmal nur ihre Büroeinrichtung: Das weiße Bücherregal mit den Metallschienen kommt raus, „da soll ein großes Bild hin“. Überhaupt sieht ihr Büro noch nach Einzug aus: Leere Fächer in der Schrankwand, wenige Bücher im Regal, leere Übertöpfe, aber dafür viele Blumensträuße. Als Begrüßung für die Neue.

Die ist nun endlich wieder in Hamburg. Der Stadt, in der sie 40 ihrer 49 Lebensjahre verbracht hat. Hier ist sie aufgewachsen, zur Schule gegangen, hier hat sie Germanistik und Erziehungswissenschaften studiert. Und hier war sie Lehrerin an einer Gewerbeschule für Kraftfahrzeugmechaniker, baute danach ein Projekt des Hamburger Senats für junge Arbeitslose auf.

„Wir hatten so einen pädagogischen Elan“, erinnnert Stoltenberg sich an die Zeit, in der sie mit ihrer WG in Brokdorf demonstrierte, „wir haben gedacht, wenn wir uns nur anstrengen, verändern wir die Welt“. Aber die Welt wollte gar nicht: „Das war eine Erfahrung der eigenen Grenzen.“

An die schloss sich die Frage nach dem Sinn an. Darauf hatte Annegrethe Stoltenberg erstmal nur die Hälfte einer Antwort: „Der Sinn meines Lebens war jedenfalls nicht, bis 65 als Lehrerin zu arbeiten.“ Obwohl sie den Beruf mochte, „keine Ranzen-Phobie“ hatte. Trotzdem: Irgendetwas fühlte sich falsch an. Also kündigte die 28-Jährige ihr Beamtin-auf-Lebenszeit-Dasein für eine ungewisse Zukunft.

„Ich bin gereist, war viel in Asien und hatte eine richtige zweijährige Krise.“ Die Beschäftigung mit dem Buddhismus hat sie zum Christentum zurück gebracht. Stoltenberg studierte Theologie und verdiente sich dabei jedes Semester selbst. „Ich bin Taxi gefahren und habe als Lehrerin gearbeitet.“ Irgendwann ist sie dann wieder in die Kirche eingetreten.

Es folgten Vikariat in Langenhorn, einige Monate als Pastorin am Michel und dann 1988 die Studien- und Planungsgruppe im Kirchenamt der EKD in Hannover: „Das war die Denk- und Spinngruppe der EKD“. Überlegungen zur Zukunft der Kirche auf soziologischer Grundlage. 1990 wurde sie Leiterin der Bildungsabteilung und dann kam eine „wahnsinnig aufregende Zeit“: Annegrethe Stoltenberg reiste viel durch die neuen Bundesländer, und schuf eine Stiftung, die die Gründung evangelischer Schulen fördert.

In Hannover war sie bis Ende des vergangenen Jahres. Ein Zuhause ist ihr die Stadt nie geworden. „Ich war fast die Hälfte meiner Zeit auf Reisen.“ Deshalb hat sie auch den „Mann meines Lebens“ im ICE kennengelernt. Er kommt auch bald nach Hamburg. Annegrethe Stolzenberg hofft, „mich wieder in ein soziales Netz einfügen zu können, weil ich nicht mehr so viel unterwegs sein werde“.

Sie will singen, tanzen, malen. „Und langsam wieder mit dem Laufen anfangen“. Sie möchte ins Theater, in die Oper, zu Konzerten gehen. Und sie will, „dass die Kirche die Frage nach der Transzendenz offenhält. Denn dass Auto, Outfit und Körperkult als Lebensinhalt nicht tragen, merkten die Leute oft erst in Krisen.“ Die Kirche soll Angebote machen, um die Fragen zu beantworten: Warum, Wohin, Woher?