Präziser als mit ruhigem Händchen

■ Der 34-jährige Professor Tim Lüth hat im Virchow-Klinikumden weltweit ersten universellen Chirurgieroboter entwickelt

Im grünen OP-Dress und mit einer Papierhaube auf dem Kopf steht Tim Lüth neben dem Operationstisch und kramt einen Meißel hervor, knapp einen Zentimeter breit und mit schlichtem Holzgriff. „Das ist ein Präzisionsinstrument, wie es moderne Chirurgen täglich benutzen“, erklärt er knapp. Hätte er gesagt, dass er damit am Wochenende den Kitt aus seinem Küchenfenster gehauen hat, man würde es ihm vielleicht eher abnehmen.

Tim Lüth kennt sich mit vielen Operationsabläufen aus, und das, obwohl er kein Mediziner ist. Unter den gleißenden Lichtern wird normalerweise am Patienten geschnitten, gebohrt, gefräst und geschraubt – in der Regel frei Hand. Präzision kann da schnell zum Glücksspiel werden. Hat der Chirurg überhaupt Erfahrung? Hat er die letzten siebzehn Stunden durchoperiert? Selbst wenn er ausgeruht ist und einen guten Tag erwischt hat, sind seiner Genauigkeit Grenzen gesetzt. Schließlich ist ein Chirurg kein Roboter.

Und gerade hier fängt Lüths Arbeit an: Seit 1997 ist er am Virchow-Klinikum Professor für Navigation und Robotik, in der Station für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Mit seinem Team aus Ingenieuren und Medizinern hat er den weltweit ersten universell zugelassenen Medizinroboter entwickelt, der sich für verschiedene Anwendungen eignet.

Bislang hat Lüth im OP nur Kunststoffschädel und Schweineköpfe zerbohrt, aber der große Tag rückt näher: Im Februar soll der Apparat zum ersten Mal einem richtigen Patienten ein künstliches Ohr einsetzen. Allerdings arbeitet die Maschine nicht allein. Weiterhin ist es der Chirurg, der den Bohrer oder die Säge führt, der Roboter arbeitet sozusagen versteckt. Er weiß, welche Handgriffe der Chirurg im Idealfall ausführen müsste, und schränkt dessen Bewegungsfreiheit ein. So verhindert er, salopp gesagt, dass der Arzt abrutscht, Nerven anbohrt oder Löcher schräg setzt. Deswegen spricht Lüth auch lieber von „Assistenzsystemen“ als von „Robotern“: „Das ist die Maschine, die es mir erlaubt, dorthin zu bohren, wo ich will.“ An vollautomatischen Robotern werde zwar auch hier und da gearbeitet, aber es sei unwahrscheinlich, dass die sich durchsetzten.

Lüth holt ein Buch mit fürchterlichen Fotos hervor. Es zeigt Menschen, die bei Unfällen ein Ohr oder eine ganze Gesichtshälfte verloren haben und erst durch Implantate wieder zu einem halbwegs normalen Äußeren kommen. Das Einsetzen dieser Prothesen ist bisher ein langwieriger Prozess: Oft müssen bis zu sechs Löcher in den Schädelknochen gebohrt werden, bis sich zwei feste Stellen gefunden haben. Über Monate müssen Verankerungen im Knochen und Prothesen immer wieder aneinander angepasst werden. Mit dem Roboter sollen sich nun die Gewinde und Schrauben gleich auf Anhieb so gut zusammenfügen, dass das künstliche Ohr oder die Gesichtshälfte gleich beim ersten Versuch sitzt.

Auf die Idee, dass er sich einmal mit Chirurgie beschäftigen würde, wäre Lüth übrigens noch vor fünf Jahren nicht gekommen. Früh ein Computerfreak, wollte er zunächst Physik studieren, doch ein Vetter überredete ihn zum Studium der Elektrotechnik in Darmstadt. Erst danach studierte er Robotik in Karlsruhe. Doch die Disziplin geriet gerade in eine Krise, weil die Industrie nicht mehr an den Forschungen der Unis interessiert war – Maschinen für die ewig gleichen Bewegungsabläufe entwickelte sie stattdessen selbst.

„Als ich 1995 erstmals auf Medizinroboter angesprochen wurde, habe ich das als Thema nicht einmal ernst genommen“, erinnert sich Lüth. Jetzt hat er, gerade mal 34 Jahre alt, die erste solche Professur schon zwei Jahre inne. Wenn er sein Büro auf der Station verlässt, sieht er im Gang die oft entstellten Patienten warten und hat so direkt vor Augen, wofür er arbeitet: „Das motiviert mehr, als bei Mercedes-Benz die Fertigungstakte um ein Zehntel zu verkürzen.“ Doch dass nun das Robozeitalter nach den Montagehallen auch die OPs erreicht hätte, hält Lüth für übertrieben. Allein in Deutschland gäbe 2.200 Kliniken, und weltweit seien beispielsweise nicht mehr als 40 Roboter für Hüftoperationen im Einsatz. Auch sind sie einfach noch zu teuer: Der mechanische OP-Assistent des Virchow-Klinikums hat eine Million Mark gekostet, einen ganz ähnlichen Industrieroboter bekommt man schon für 80.000.

Auch fehlt für die Forschung das Geld: Lüths Projekt hat keinen festen Etat, sondern finanziert sich über Sponsoren und Preisgelder – Ende letzten Jahres erhielt Lüth den mit einer Million dotierten Forschungsförderpreis der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung in Essen. Für ihn ist es trotzdem unverständlich, dass ein Institut der Weltspitze betteln gehen muss: „Wenn wir uns nicht ständig aktiv um neue Sponsoren kümmern würden, wäre hier nach einem halben Jahr Schluss.“Martin Kaluza