Modernes Antiquariat
: Mitternachtsdisco

Engel im Schnee: Klaus Schlesingers Berliner Erzählung „Leben im Winter“

Vor dem Boom war auch schon Boom: Wir stellen in unregelmäßiger Reihenfolge Berlin-Romane vor, die vor 1989 erschienen sind.

1979 gab es viel Schnee zu Weihnachten. Kinder fuhren auf Gleitschuhen oder hölzernen Schlitten den Mont Klamott hinab, dem höchsten Berg im Volkspark Friedrichshain, und die Jugendlichen trafen sich zur Mitternachtsdisco auf dem Eis. Der Schnee war verharscht und grau vom Ruß der Schornsteine im Osten.

Besonders im dicht bebauten Prenzlauer Berg. Hier spielt Klaus Schlesingers Erzählung „Leben im Winter“ – eine Geschichte über Geburtstag, Kiffen und Gegenwartsbewältigung. Da ist Martha, die ihren Siebzigsten feiert, ihr Enkel, der im Westen wohnt und „graugrüne Fusseln“ in den Osten schmuggelt, um sie zur Feier des Tages den Kindern des Sozialismus in die Selbstgedrehte zu bröseln. Da ist Marthas Tochter Helga, die gerade von ihrem Mann verlassen wird, und Robert, Helgas Sohn, den die Erweiterte Oberschule vom Unterricht suspendiert, weil er gefälschte Fotos in den Geschichtsbüchern entlarvt.

Doch es geht in diesem Buch gar nicht zuerst um die unterschiedlichen Probleme der Menschen aus Ost und West. Es geht um die Erinnerung. Zum einen um die, an die man sich gern erinnert: das Einsegnungsfoto, die gemeinsamen Nächte, in denen alle noch richtig trinken konnten, die geräucherte Bockwurst, die Schrippen und das weggebombte Haus in der Ackerstraße, dessen Lücke nun endlich einen kleinen Ausblick auf die Stadt Berlin ermöglicht.

Und dann gibt es etwas, an das sich niemand gern erinnert. Die Wohnung, in der man so gemütlich beisammensitzt, gehörte Juden. Man ist hier eingezogen, weil sie sozusagen „frei“ war. Von solchen Erinnerungen will man sich nicht den Abend versauen lassen, und darum freut man sich über den Schnee. Schnee, der alles zudeckt: die Mitläufermentalität, die Debatte und die Konsequenz. Was übrig bleibt, ist die normale Kleinbürgerfamilie: „Ansonsten Herr Luther, ist alles in Butter“, sagt der Onkel, und schon geht die Party weiter.

Klaus Schlesinger, 1937 in Berlin geboren, schrieb dieses Buch 1979, in dem Jahr, als man ihn aus dem Schriftstellerverband der DDR ausschloss. Er hatte einen Brief an Erich Honecker unterzeichnet, in dem die Kulturpolitik der DDR kritisiert wurde. Im März 1980 siedelte Schlesinger daraufhin mit einem Ein-und Ausreisevisum nach Westberlin über, im gleichen Jahr erschien „Leben im Winter“ in Frankfurt am Main. Als 1989 die Mauer fiel, kam Klaus Schlesinger als einer der ersten wieder in den Osten zurück – und erinnerte sich. Er berichtete von seinen „Schwierigkeiten, ein Westler zu werden“.

Katja HübnerKlaus Schlesinger: „Leben im Winter“. Aufbau Taschenbuch Verlag. Berlin 1999. 109 Seiten, 12,90 DM