Chinas Führung spricht von einer Auslandsreise

Für Peking ist die Flucht seines tibetischen „Vorzeige-Buddhisten“ ein Gesichtsverlust

Die tibetische Exilregierung und die Führung der Volksrepublik China haben bisher sehr zurückhaltend auf die Flucht des Karmapa reagiert. Ein Sprecher der Exilregierung im nordindischen Dharamsala bestätigte gestern lediglich, dass der 14-Jährige dort am Mittwoch nach einem mehrtägigen Marsch in Begleitung von Mönchen eingetroffen sei. Nähere Angaben wollte der Sprecher unter Hinweis auf das „extrem sensible“ Thema nicht machen.

Die chinesische Regierung bestätigte lediglich, dass der Karmapa seinen Sitz im Tsurphu-Kloster verlassen habe. Die Meldung der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua erwähnt nicht, dass der von Peking anerkannte religiöse Führer nach Dharamsala zum Dalai Lama geflohen sei. Es hieß nur, der Karmapa befinde sich im Ausland, um einige Musikinstrumente zu holen. Im Kloster habe er sogar einen Brief zurückgelassen, demnach seine Abreise keinen Verrat „am Staat, der Nation, dem Kloster oder der Führung“ bedeute. Damit hält Peking sich und dem Karmapa alle Optionen offen. Bei der Flucht des Dalai Lama 1959 hatte China dies zunächst als Entführung bezeichnet.

„Für China ist die Flucht des Karmapa ein Schlag, einen herberen kann es für die Tibet-Politik Pekings wohl zur Zeit nicht geben“, erklärte der frühere langjährige Vorsitzende des Vereins der Tibeter in Deutschland, Tsewang Norbu. Mit der Flucht sei Pekings Versuch, den Karmapa als Gegengewicht zum Dalai Lama aufzubauen, gescheitert.

Die zurückhaltende Reaktion der Exilregierung erklärt Norbu damit, dass Dharamsala Peking nicht noch weiter provozieren wolle. „Politisch ist die Flucht des Karmapa ein Sieg für die Tibeter, doch es besteht die Gefahr, dass China wegen des Gesichtsverlusts die Repression verschärft“, so Norbu. So könnte es zu Racheaktionen gegen das Tsurphu-Kloster kommen. Auch könnte Chinas Führung gewisse Freiräume für die tibetischen Buddhisten, die der Karmapa im Tausch für eine gewisse Kooperation erwirkt hatte, wieder zurücknehmen.

Als unwahrscheinlich wertet Norbu, dass Peking das Scheitern seines Versuchs der Vereinnahmung hoher Religionsführer als Anlass für einen Dialog mit dem Dalai Lama nehmen könnte. Als Bedingung für solche Gespräche besteht Peking auf Anerkennung seiner Hoheit über Tibet.

1950 waren chinesische Truppen in den Himalajastaat einmarschiert, der im Folgejahr von Peking annektiert wurde. Nach einem fehlgeschlagenen Aufstand floh der Dalai Lama 1959 mit etwa 70.000 Anhängern nach Indien. Auch die Regierung in Delhi, die zum Ärger Pekings seither die tibetische Exilregierung beherbergt, dürfte von der Flucht des Karmapa nach Indien nicht erfreut sein, könnte dies doch die ohnehin angespannten Beziehungen zu Peking weiter belasten.

Die Repression in Tibet hat sich 1999 nach Angaben des „Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie“ verschärft. China halte 615 Tibeter aus politischen Gründen gefangen, so das Zentrum in einem kürzlich veröffentlichten Bericht. Sechs Gefangene seien im vergangenen Jahr durch Folter gestorben. 2.474 Tibeter seien 1999 geflohen, darunter 1.115 Kinder. Sven Hansen