Das Theater der Träume

Wenn die Anzugmenschen die alte Fankultur verdrängen: Am Beispiel von Manchester United und der Oper in Old Trafford lässt sich die Zukunft des Profifußballs studieren ■ Von Niels Kadritzke

Die bekannteste Adresse der Stadt erreicht man am schnellsten mit der Tram. Von der Haltestelle Old Trafford geht es durch ein Gewerbegelände mit Verbrauchermärkten und getönten Glasfassaden, die High-Tech-Unternehmen vorspiegeln. Plötzlich ragt die rot-blaue Fassade einer gigantischen Messehalle gen Himmel. Aber erst wenn man davorsteht, gibt sich der Bau als Außenfassade des Old Trafford zu erkennen. Man merkt es spätestens an der „Munich-Clock“. Die Uhr zeigt das Datum des 6. Februar 1958, zum Gedenken an die größte Katastrophe der Vereinsgeschichte, den Münchner Flugzeugabsturz der „Busby-Babies“, wie man das junge United-Team damals in ganz Europa nannte. Unter den 22 Todesopfern waren acht Spieler und zwei Betreuer.

Erst in den 90er-Jahren eroberten die „Reds“ mit Trainer Alex Ferguson die Vorherrschaft über Liverpool und die Londoner Clubs zurück. Der Aufstieg ging einher mit einer kommerziellen Strategie, die im internationalen Profifußball völlig neue Maßstäbe setzte. „Manchester United ist zu einem hoch profitablen Freizeitunternehmen geworden“, staunte das Wirtschaftsmagazin The Economist. Wie sich die Branche entwickelt und was damit auf die Fans zukommt, lässt sich heute nirgends besser studieren als beim Manchester United Football Club.

Zum Beispiel bei einer Stadionführung. James Wright ist einer der Führer, die täglich hunderten von Besuchern das neue Old Trafford erklären. 21 Jahre lang war er Feuerwehrmann und in seiner Freizeit ein glühender United-Fan. Heute arbeitet er ganztägig für seine große Liebe. Entsprechend hat er zwei Seelen in seiner Brust. Die eine hängt an dem Club, der noch heute verdienten Mitgliedern ihren allerletzten Wunsch erfüllt, indem er ihre Asche auf dem Old Trafford-Rasen entsorgen lässt. Seine andere Seele hängt an dem modernen Konzern, der das Old Trafford zum Fußball-Disneyland gemacht hat; der für den Besuch des leeren Stadions und des Manchester-United-Museum pro Person 30 Mark abkassiert und der mit allen Mitteln versucht, möglichst vielen Kindern das Geld ihrer Eltern aus der Tasche zu ziehen. Unter dem Motto „Choose your favourite United Star“ kann sich der kleine Fan im Museum neben die lebensgroße Pappfigur seines Fußballidols stellen und für zehn Mark ein Polaroid knipsen lassen.

Durch das leere Old Trafford pfeift ein kalter Wind. Stadionführer James Wright erläutert die Kapazität der dreistockigen Nordtribüne, die 80 Millionen Mark verschlungen hat. Auch das Gelände ringsum ist Vereinseigentum: „Die ganzen Firmen, die Sie in dieser Gegend sehen, stehen auf dem Grund und Boden von Manchester United und müssen uns Pacht zahlen.“ Den Grund und Boden hat man erworben, damit man irgendwann die anderen Tribünen ähnlich aufstocken kann wie den Koloss der Nordtribüne. Unter den Sitzrängen ist ein Restaurant mit tausend Plätzen untergebracht. Hier können United-Anhänger für viel Geld ihre Hochzeit ausrichten. Außerdem gibt es: Kino, Konferenzräume, das United-Museum.

Und dann zeigt James Wright mit großer Geste nach oben. Über dem ersten Zuschauerrang läuft ringsum ein gleißendes Band von Panoramafenstern. Dahinter liegen die „executive boxes“. Das sind die Privatlogen, in denen das gehobene Publikum tafeln kann, während sich unten auf dem Rasen 22 Fußballer die Lunge aus dem Hals rennen. Die billigste Box kostet 16.000 Mark Jahresmiete. Sie hat einen Tisch mit sechs Plätzen, aber wenn man nach dem Kellner klingelt, muss man Speisen und Getränke selber zahlen. Die teuerste Loge kommt auf fast 60.000 Mark, acht Plätze, Essen inklusive. Alle Boxen sind schalldicht verglast, über einen Regler können die Insassen die Außengeräusche, also den Lärmpegel der Zuschauer, regulieren. Die 180 Logen sind auf Jahre hinaus vermietet, meist an Firmen, die ihre Manager und Geschäftsfreunde bei Laune halten wollen. Ein Logenplatz im „Theater der Träume“ ist in Manchester begehrter als ein Opernabend.

Doch die Massen lassen sich von den besseren Fußballgästen nicht ganz fern halten. Die da drinnen haben einen Fernseher mit Direktübertragung, und wenn ein Tor fällt, wollen die da draußen die Wiederholung mitbekommen. Das finden die da drinnen nicht immer lustig, meint Stadionführer Wright: „Da kannst du einen schönen Schreck kriegen, wenn da plötzlich eine Flut von hässlichen Gesichtern anbrandet, die alle durch deine Scheibe glotzen.“

Die Klassenfrage hat sich erledigt: Der Zusammenstoß zweier Kulturen, der über die letzten zehn Jahre in den englischen Stadien ausgetragen wurde, ist in Manchester längst entschieden. Hier hat sich das neue Publikum gegen die traditionelle Fankultur auch auf den Rängen weitgehend durchgesetzt. Heute werden fast alle Plätze per Jahresabonnement verkauft, das sich die ärmeren Schichten ohnehin nicht leisten können. In den freien Verkauf kommen pro Spiel nur noch ein paar tausend Karten, wobei es für jede mindestens zehn Interessenten gibt. Die Tickets werden im Losverfahren vergeben.

Man begreift die Begeisterung, wenn man ein Flutlichtspiel im Old Trafford miterlebt. Der Blick in die Runde ist atemberaubend. Das Raumerlebnis verspricht nicht Fußball, sondern große Oper in der Freilichtarena mit Lichtregie und Massenchören. Ringsum läuft das freitragende Tribünendach, besetzt mit Halogenscheinwerfern, die das Bühnenbild aus der Nacht herausschneiden, eine sattgrüne, leicht gewölbte Rasendecke. Auf halber Höhe glimmen die „executive boxes“, schemenhafte Kellner gleiten durch das gedämpfte Licht hinter den Panoramescheiben.

An der Rückwand der Haupttribüne liegen die Eingänge zur exklusiven „International Lounge“. Ein Mercedes 600 gleitet heran, der Fahrer hilft einer Dame auf den Asphalt. Es raschelt und duftet wie im Opernfoyer. Ein junger Mann mit Parka erklärt, was er von diesen Leute hält: „Oh, the ‚suits‘ – das sind diese Anzugmenschen; die halten es offenbar für schick, zu einem Fußballspiel zu gehen, sie müssen elegant aussehen, sie trauen sich nicht, mit uns, dem normalen Publikum, zu schreien und eine Mannschaft anzufeuern.“ Und dann erzählt Allen, der Parka-Fan, von den guten alten Zeiten, als die wahren Fans sich im strömenden Regen auf der Stehtribüne drängten und mit lauten Männergesängen ihr Team anfeuerten. Heute hat das Old Trafford nur noch Sitzplätze, und die Vereinsoberen versuchen, den Fans das Aufspringen zu verbieten, selbst wenn ein Tor gefallen ist. Aber das, meint Allen, werden die nie schaffen: den Leuten aus der Arbeiterklasse beizubringen, sich wie die Upperclass zu benehmen.

Manchester United und Tottenham Hotspur waren die ersten Klubs, die zu Beginn der 90er-Jahre Aktien auflegten. Heute werden zehn Fußballclubs an der Börse gehandelt. Bei allen Clubs sind die Aktienkurse inzwischen eingebrochen, außer bei Manchester United. Und die Idee eines speziellen „Footsie Football“-Index, von dem die Börsianer lange träumten, hat man in der Londoner City längst begraben.

Viele, auch die Spieler, kritisieren, die Atmosphäre im Old Trafford habe sich zuletzt immer mehr in ein Cold Trafford verwandelt. Jim White hat beobachtet, dass das Logenpublikum die Schallsysteme, die den Lärm von draußen hereinholen, fast immer voll aufdrehen. Auch für die Anzugmenschen gehört das Singen, Anfeuern und Aufstöhnen auf den Rängen zum Gesamtkunstwerk, das sie gebucht haben. Wie die Massenchöre in der Großen Oper.

Zwar ist das Medienkapital mit seinen Vermarktungsinteressen für die Zukunft des Fußballs der bestimmende Faktor. Aber die wahren Fußballfans sind nicht völlig machtlos. Michael Crick, der Sprecher der United-Kleinaktionäre, rechnet zwar damit, dass, nachdem im vergangenen Jahr der Übernahmeversuch des Medienzars Rupert Murdoch untersagt wurde, irgendwann ein neuer Großinvestor vor Old Trafford steht. Doch bis dahin wollen die wackeren „Shareholder United“-Leute dafür sorgen, dass sich noch mehr Aktienanteile in den Händen der Fans befinden. „Wir Anhänger wollen unseren Anteil an dem Club auch aus sentimentalen Gründen behalten. Aber wenn wir einen größeren Block des Aktienkapitals besitzen, können wir dafür sorgen, dass der neue Mehrheitsaktionär seine Macht nicht so nutzt, dass es den sportlichen Interessen des Clubs zuwiderläuft.“