Blatt-Schuss
: Disl wie Gottschalk

Von der Entwicklung und medialen Bemächtigung des Biathlonsports

Oberhof (taz) – Uschi Disl läuft ins Skistadion ein. 12.000 Zuschauer jubeln. Katja Beer geht auf die Loipe. Die deutsche Staffel führt. Die Freunde des Biathlon, die schon drei Stunden vor dem Wettkampf, also um acht Uhr morgens, die besten Plätze auf der Tribüne am Schießstand eingenommen haben, feiern musikalisch. Ein Dutzend Mal musste das Rennsteiglied, die Grundfeste thüringer Befindlichkeit, bereits herhalten, um den Gemütszustand diesseits von Bratwurstschwaden und Zickezacke-Einszweidrei zu untermauern. Emphatisch wird der lust'ge Wandersmann besungen, der so völlig unbeschwert durch Busch und Tann streift, der sich auf dem Rennsteig am schönsten Plätzchen dieser Welt wähnt und nur hier, in 850 Meter Seehöhe, glücklich werden kann. Startläuferin Disl trifft den Unterton des Liedguts in etwa, auch sie ist glücklich. Die zierliche Zweikämpferin aus dem bayrischen Moosham freudestrahlt: „Es ist einfach wunderbar hier, Biathlon ist der schönste Sport der Welt.“

Oberhof ist der erste Veranstaltungsort der Biathlon Trophy, die in Ruhpolding und Antholz fortgesetzt wird. Die Trophy soll in Zukunft einen Stellenwert wie die Vierschanzentournee der Skispringer bekommen. Der Weg dahin ist bereitet. Das Fernsehen hat erkannt, dass sich mit langlaufenden Kleinkaliberschützen Quote machen lässt. ARD und ZDF haben für 4,8 Millionen Mark bis 2006 die Übertragungsrechte inne. ZDF-Moderatorin Christa Haas bekundet, mit den Übertragungen sei man „extrem zufrieden“. Die Verfolgungsrennen am Freitag sahen im Durchschnitt 1,1 Millionen Zuschauer. Das ergab einen Marktanteil von 20,2 Prozent, so viel wie die „heute“-Sendung um 19 Uhr. Am Samstag verfolgten im ZDF 2,39 Millionen die Damenstaffel (Marktanteil: 35,3 Prozent). Die Russinnen gewannen vor den deutschen Biathletinnen. Bei der am Sonntag ausgetragenen Herrenstaffel siegte Norwegen knapp vor dem deutschen Team.

Die Mixtur der Publikumswirksamkeit ist einfach: Schießen und Langlaufen, Spannung und Überraschung. „Im Schießstand geht es schlimmer zu als bei jedem Krimi“, sagt Disl. Zudem erweist sich der Sport als anpassungsfähig. Wenn das Fernsehen den Athleten Pulsgurte umschnallt und neben den Schützen Mikros aufstellt, dann spielen die Offiziellen des Deutschen Ski-Verbands (DSV) und der Internationalen Biathlon Union (IBU) mit. Der Wettkampf wird in allen erdenklichen Kombinationen ausgetragen. Den klassischen Disziplinen (10 km, 20 km, Staffel) folgen Verfolgungsrennen, Staffelwettbewerbe und gemischtgeschlechtliche Duos. Die Anzahl der Starts hat sich fast verdoppelt. In Oberhof tischten die Streckenplaner ein besonderes Schmankerl auf – Geschwindigkeitsmessung. In einer Wolfsschlucht genannten Abfahrt schossen die Läufer zu Tal oder vielmehr in die Kompression. DSV-Athlet Ricco Gross erreichte 72,4 km/h. Gross: „Die Austragungsorte versuchen sich untereinander in der Brutalität der Strecke zu überbieten.“

Disl knotet zur Erklärung des Biathlon-Booms ein Möbiussches Band. Erfolg bedingt Medieninteresse bedingt Sponsorengelder bedingt Erfolg. Doch Veränderungen stehen an. Während die Reporter Bundestrainer Uwe Müssiggang noch mit ins Fernglas zur Trefferkontrolle schauen, somit also Zustände wie vor dem Sündenfall herrschen, kennt Disl schon den Geschmack des bitteren Apfels: „Früher bin ich zu den Zuschauern gegangen. Wenn ich das heute mache, komme ich unter vier Stunden nicht raus. Es geht nicht mehr. Und wegen der Ansteckungsgefahr ist es zu gefährlich.“ Sie orakelt: „Bei der Tour de France gibt es auch nur eine Pressekonferenz, und dann ist Jan Ullrich weg. Das wird bei uns auch kommen.“ In Oberhof fühle sie sich manchmal schon wie „der Thomas Gottschalk“, bis aufs Zimmer „rennen die Leute einen nach“.

Noch ist Unbefangenheit im Lager der deutschen Biathleten, die mit einem Etat von 6,5 Millionen Mark wirtschaften (Budget der Schweden: 300.000 Mark). Das wird auch am Beispiel der Preisgelder deutlich. Peter Sendel, in Verfolgung und Staffel Zweitplatzierter, wusste nicht zu sagen, wie hoch sein Preisgeld war. 26.000 Mark bekam er, 20.000 vom DSV, dazu ein „Entwicklungsstipendium“ der IBU über 6.000 Mark. „Ah, schön, nach Abzug der Steuern also 13.000 Mark“, zeigte er sich überrascht. Auch Disl gibt an, nur „ungefähr“ die Summen zu kennen. „Sicher nehmen wir das Geld gern, aber ich würde auch einen Weltcup-Sieg nehmen ohne Prämie – Hauptsache, ein Sieg.“ Markus Völker