Der Mann für die Bratwürste

1970 träumte Wolfgang Haupt von einer Maschinenbaukarriere. Er ging zum FDJ-Zentralrat. Heute arbeitet er in einem Ilmenauer Gründerzentrum

Damals, 1970 war ich gerade bei der Nationalen Volksarmee in Teutschenthal. Ein kleines Dorf, ringsrum nur Maisacker, weit und breit nix: Ich hatte Zeit zum Briefeschreiben, Zeit, mir Gedanken zu machen über die Zukunft.

Damals, mit 17 Jahren, hatte ich schon einen Facharbeiter in der Tasche. Ich war schon Kandidat der SED, mit 17! Normalerweise durfte man erst mit 18 Jahren Kandidat werden. Aber bei mir ging schon immer alles etwas schneller.

Wir von der elektronischen Aufklärung waren schon eine etwas eigene Gruppe. Ich war Truppenführer eines Peiltrupps. Wir, die so etwas machten, hatten ein stark ausgeprägtes Feindbild.

1972 hätte ich ein Ingenieurstudium aufnehmen sollen. Ich weiß nicht mehr, warum ich das nicht gemacht habe. In dem Brief habe ich ja noch davon geträumt.

Bei der NVA hatte man mich gefragt, ob ich nicht bleiben wolle, FDJ-Arbeit machen im Regiment, Berufssoldat werden. Aber das wollte ich nicht.

Ich bin auf die FDJ-Kreisleitung Ilmenau gegangen. Die haben mich gleich genommen, als Instrukteur, als Mädchen für alles. Ich war unter anderem zuständig für den Kontakt zu den Grundorganisationen. Im Unterbewusstsein war es ja immer so: Du gehst dahin, wo die Partei dich braucht.

Bezirksparteischule, Studium an der Parteihochschule in Berlin – aus heutiger Sicht war sicher viel Reglementierung dabei. Aber es war auch eine Schule fürs Leben. Gewisse Dinge, die bei Marx vorkommen, stimmen ja immer noch.

Heute muss ich sagen: Ich habe nicht genug da nachgefragt, wo ich hätte nachfragen müssen. Das Denken haben zum Teil andere übernommen. Man selbst hat sich nur eingetaktet.

Ich wurde Beauftragter des Sekretariats des Zentralrates der FDJ. Partei und FDJ haben das Familienleben organisiert. Meine Frau bekam eine Stelle im Pionierpalast. Wir bekamen unkompliziert eine Wohnung, eine Neubauwohnung im 15. Stock in Berlin-Lichtenberg, klein und fein, fließend warmes Wasser. Ich habe die Wohnung nie als Arbeiterschließfach empfunden.

Im Block wohnten 183 Familien. Da in Berlin gab es einen bombigen Zusammenhalt. Heute, hier in Ilmenau, kennt sich fast niemand mehr im Aufgang.

Man wusste damals immer: Es geht weiter. „So und so ist es“, hieß es, „machst du mit oder nicht?“

Ich habe mitgemacht. Wenn wir von der FDJ zum Beispiel Eingaben bekommen haben, haben wir das als Vertrauen in die FDJ interpretiert und weniger so, dass dies Anzeichen für zunehmend mehr Probleme im Land sind.

Ohne ein straffes Regime wäre Chaos ausgebrochen

Von 1979 an gab es keine jugendpolitische Demonstration ohne mich, ob in Berlin oder in Karl-Marx-Stadt. Ich war unter anderem zuständig für die Demoauflösung. Zum Beispiel beim FDJ-Pfingsttreffen 1989, als 270.000 junge Leute in Berlin waren. Es ging ja darum, wie die Leute nach Hause kommen. Hätte es da kein straffes Regime gegeben, die Leute zu verteilen, Chaos wäre ausgebrochen. Der Plan war: die Leute strahlenförmig abzuziehen. Es galt abzusichern, dass um 20.42 Uhr diese tausend Mann in diese S-Bahn steigen und um 20.47 Uhr diese tausend Mann in diese U-Bahn. Und zu klären galt auch: Wer bekommt wann und wo seinen Verpflegungsbeutel.

1972 habe ich bei der FDJ sechshundert Mark brutto verdient, zum Schluss 1.700 Mark. Ich war einer der längstgedienten Abteilungsleiter in der FDJ-Zentrale. Ob ich davon profitiert habe?

Gut, ich brauchte kein Auto, weil ich ein Dienstauto bekam, wenn ich eines brauchte, auch wenn wir in den Urlaub fahren wollten. Das Wohnungsproblem wurde für uns geklärt – das ging bis Anfang 1988 so.

Im Frühjahr 1988 ist meine Mutter gestorben, mein Vater wohnte zeitweise bei uns, wir hatten kleine Kinder und nur eine Dreiraumwohnung. Wir wollten eine größere – aber auf einmal klappte das nicht mehr so ohne weiteres.

Am 7. Oktober 1989, dem vierzigsten Republik-Geburtstag, bin ich nach Ilmenau gefahren und habe mir da eine Wohnung angeschaut. Am 18. Oktober, am Tag, als Erich Honecker zurücktrat, rollte der Möbeltransporter nach Thüringen. Am 1. November fing ich bei der Partei an. Ich war der letzte im Kreis Ilmenau, der bei der Partei einen Arbeitsvertrag gekriegt hat. Nur noch zwei Wochen war eine normale Arbeit möglich, dann ging nichts mehr.

Im Januar 1990 war ich das erste Mal auf einem Arbeitsamt. Ich hatte schnell begriffen, dass ich mit meinem Studium keine Lorbeeren mehr ernten könnte.

Auf dem Arbeitsamt hatten sie ein paar Schnellhefter liegen, und auf kariertem Papier standen die freien Stellen. Ich habe eine als Plastespritzer angenommen, eine stupide Arbeit im Dreischichtsystem. Die einzige Motivation für mich war: Wie kriegste Geld für die Familie zusammen? Auch später habe ich immer gesagt: Ich suche Arbeit, ich habe nicht gesagt: Ich suche diese Arbeit.

Wir haben spät unsere Mädels bekommen, 1985 die Katja, 1987 die Antje, 1989 die Danka, da war ich schon fast 40.

Als die Leute hier im Wohngebiet 1990 eine Fahne ohne Emblem aus dem Fenster gehängt haben, haben wir unseren Kindern erklärt: „Das ist die Fahne der BRD. Da wollen die Leute leben.“ Unsere Große hat gefragt: „Und wo sollen wir dann wohnen?“

Später habe ich als Außendienstmitarbeiter Bier verkauft. Ich bin durch Thüringen gefahren, doch die Leute wollten kaum noch einheimisches Bier.

Auch in Dänemark ist Kapitalismus. Aber menschlicher

Von 1992 bis 1997 bin ich nur auf der Schiene Arbeitsamt gefahren, habe Umschulungen gemacht und Praktika. Nur einmal, für vier Monate, hatte ich einen Job als Regaleinräumer in einem Supermarkt. Einmal sagte der Chef: „Sie gehen heute ins Kühlhaus.“ Da drin waren es 18 Grad minus, und ich hatte an diesem Tag nur Sandalen an. Ich wurde krank – und entlassen.

Ich hatte Existenzängste. Es gab Auseinandersetzungen in der Familie. Ich war schon mal sehr impulsiv. Ich musste den Kindern sagen: Das können wir uns nicht leisten. Aber ich bin froh, dass ich meine drei Gören habe. Die waren immer die Motivation, dass es weitergehen muss.

Jetzt arbeite ich in einem Hightech-Unternehmen in einem Technologie- und Gründerzentrum. Zwei meiner Mädels trainieren nach der Schule im Rodelklub. Die Kleine spielt Schach und im Fanfarenzug. Ich bin bei den Vereinen der „Mann für die Bratwürste“.

Was heißt, ist das meine Gesellschaft? Was heißt Kapitalismus?

Einmal im Jahr fahren wir vierzehn Tage nach Dänemark in Urlaub. Auch dort ist Kapitalismus. Aber dort geht es kinderfreundlicher zu, sozialer und menschlicher. Nicht so wie hier. Hier ist alles ganz anders.

Einmal im Jahr treffen wir ehemaligen FDJler uns. Keiner hat einen Arbeitsplatz sicher. Aber einer versucht dem anderen über die Klippe zu helfen.