Der Dalai Lama wusste von nichts

Der Grund für die Flucht des Karmapa Lama aus Tibet soll die Verweigerung von Visa für Auslandsreisen gewesen sein

Berlin (taz) – Der Karmapa Lama, vorige Woche aus dem chinesisch kontrollierten Tibet zur tibetischen Exilregierung geflohen, hat deren nordindischen Sitz Dharamsala am frühen Sonntagmorgen mit unbekanntem Ziel wieder verlassen. Das BBC-Fernsehen zeigte, wie der in rotbrauner Mönchsrobe mit gelbem Schlag gekleidete dritthöchste Führer der tibetischen Buddhisten mit Sicherheitskräften des Dalai Lama ein Auto bestieg.

Die Exilregierung des Dalai Lama erklärte am Samstag, sie habe von der Flucht des Karmapa nach Indien nichts gewusst. „Wir waren überrascht, als uns seine Ankunft mitgeteilt wurde“, sagte Kalong Tashi Wangdi, Minister für Religion und Kultur der Exilregierung.

Orgyen Trinley Dorje, der 17. Karmapa, war dort am Mittwoch eingetroffen. Die genauen Gründe für seine Flucht sind weiter unklar. Anhänger des Karmapa in den USA behaupten unter Berufung auf „authentische tibetische Quellen“, er sei geflohen, weil Peking ihm immer wieder Visa für Auslandsreisen zu religiösen Zwecken verweigert habe. Dies gehe aus einem Brief hervor, den er bei seiner Flucht hinterlassen habe, behauptet das Kloster Karma Triyana Dharmachakra im US-Bundesstaat New York auf seiner Homepage (http://www.kagyu.org). Das Kloster ist das größte Zentrum der vom Karmapa vertretenen Karma-Kagyu-Schule des tibetischen Buddhismus im Westen.

Das Schreiben sei an die Mönche des Klosters Tsurphu gerichtet und nicht, wie von Peking behauptet, an die chinesische Führung. Die hatte das Verschwinden des Karmapa zur Auslandsreise deklariert, mit der er rituelle Musikinstrumente von seinem verstorbenem Vorgänger zurückholen wolle. Nach Angabe des Tibetexperten Robbie Barnett von der New Yorker Columbia Universität ist ein weiterer Fluchtgrund darin zu suchen, dass auch ein wichtiger spiritueller Lehrer des Karmapa nicht nach Tibet habe einreisen dürfen. In Dharamsala war der Karmapa am Mittwoch und Samstag jeweils eine halbe Stunde mit dem Dalai Lama zusammengetroffen. „Er hat eine lange und schwierige Reise hinter sich und noch Probleme zu besprechen. Er ist sehr müde und erschöpft“, sagte Exilminister Wangdi.

Die tibetische Exilgemeinde in Nordindien hatte wie elektrisiert auf die Ankunft des Karmapa reagiert. Er ist der höchste tibetische Führer, der seit der Flucht des Dalai Lama und des 16. Karmapa vor 41 Jahren aus China floh. Vor allem ist er der einzige hochrangige Würdenträger des tibetischen Buddhismus, der sowohl vom Dalai Lama als auch der chinesischen Führung als Reinkarnation seines Vorgängers anerkannt wird. Peking wollte sich damit nicht nur ein toleranteres Image im Umgang mit dem Lamaismus zulegen, sondern ihn auch als Gegengewicht zum Dalai Lama aufbauen und so den Einfluss auf die Tibeter stärken. Diese Rolle verbleibt jetzt wohl allein beim von Peking ausgewählten Pantschen Lama. Der wird aber vom Dalai Lama und deshalb von vielen Tibetern nicht anerkannt.

Der seinerseits vom Oberhaupt der Tibeter als Reinkarnation ausgewählte Junge wird seit 1995 von den chinesischen Behörden an unbekanntem Ort gefangen gehalten. Vor einigen Wochen kursierte das Gerücht, er sei im Gefängnis gestorben. Sven Hansen