Wann kommt die Flut, wann stürzt die Birke?

Auf der Suche nach einem anderen, großen Leben: Sergej Sneshkins Film „Die Blüten der Calendula“ von drei Schwestern, einem russischem Landhaus und den neuen alten Zeiten

Eine Birke. Eine russische Birke. Sie ist schon ziemlich morsch, und wenn sie umfällt, wird sie auf das Dach des Landhauses stürzen. Man müsste die Birke also fällen, doch der Nachbar mit der Kettensäge verlangt neuerdings viel Geld, wenn er einen Baum fällt. Er mache das schließlich nicht alleine, sagt er und zieht sein T-Shirt gerade, auf dem irgendetwas Amerikanisches steht: „Ich arbeite mit einem Team.“ Das ist Russland, das sind die neuen Zeiten. Und da ist noch die Großmutter. Erst sagt sie gar nichts und guckt nur böse, und dann sagt sie, dass ihr Mann Protassow diese Birke gepflanzt hat und dass sie darum bleiben muss.

Das sind die alten Zeiten. Protassow, einst ein angesehener Dichter, ist gestorben, als es mit der Sowjetunion zu Ende ging. Die Perestroika hat ihm das Herz gebrochen. Er hat eine Frau hinterlassen, eine Tochter und drei Enkelinnen. Und das Landhaus. Ein russisches Landhaus, wie in den Theaterstücken von Tschechow. Und wie in den „Drei Schwestern“ träumen die Frauen von einem Leben jenseits der Datscha, und weil sie nicht nur davon träumen, sondern auch die ganze Zeit davon reden, passiert erst einmal gar nichts.

Ein böser Blick, ein hysterischer Anfall, ein Streit mit dem ewig betrunkenen Liebhaber oder dem trotteligen Ehemann, und dann zieht man sich mit einer Tasse Tee zurück in eines der vielen Zimmer des Landhauses. Zurück in die Langeweile, die Melancholie, in die Träume.

Sergej Sneshkins Film „Die Blüten der Calendula“ ist erst einmal ein Spiel mit Tschechow. Das Personal ist mit leicht veränderten Namen aus den „Drei Schwestern“ und aus „Der Kirschgarten“ zusammengesucht. Auch die Konflikte sind bei Tschechow ausgeliehen: alte Zeiten vs. neue Zeiten. Nur dass hier nicht, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der russische Adel unter traurig dahinplätschernden Gesprächen vor sich hin welkt, sondern die letzten Reste des „Sowjetadels“ – die einstigen Günstlinge des Systems – dem postsowjetischen Russland schwermütigen Trotz entgegensetzen oder gleich, wie eine der drei Enkelschwestern, nach Amerika auswandern wollen.

Doch Shneshkin hat einen sehr viel liebevolleren Blick als Tschechow, vielleicht weil die Zeiten – in Russland wie anderswo – so lieblos geworden sind. Er lässt seine Figuren nicht unter ihren illusionären Hoffnungen und traurigen Unterhaltungen zusammenbrechen, sondern glaubt genauso wie sie an den Traum von einem anderem Leben: auf der Datscha, in der Stadt, in Amerika. Irgendwo.

Der Film ist zuweilen ein bisschen theaterhaft inszeniert, aber das macht nichts. Die Schauspieler und Schauspielerinnen sind gut. Hierzulande kennt man sie nicht, und deshalb möchte man sie am liebsten allesamt mit ganzem Namen nennen: Era Siganschina, Marina Saloptschenko, Ksenija Rappaport, Julija Scharikow ... Und noch mehr Namen, sie klingen ja auch so schön: Bella Manewitsch und Walerij Jurkewitsch haben für die Festszenen in „Die Blüten der Calendula“ Kostüme gemacht, die so lustig aussehen, als kämen sie aus Vivienne Westwoods Werkstatt.

Die wahren Melancholiker in diesem Film sind die beiden „neuen Russen“: Russezkij und Dshigurda, ehemalige Milizangehörige, die jetzt in Import/Export machen. Eigentlich wollten sie das Landhaus kaufen. Doch als sie zum Schluss, mitten in der Nacht, in ihrem Mercedes vor der Dichterfamilie fliehen, können auch sie sich für einen Moment vorstellen, dass noch ein anderes Leben auf sie wartet. Da bekommen sie Angst. Kolja Mensing„Die Blüten der Calendula“. Regie: Sergej Sneshkin. Mit: Era Siganschina, Marina Saloptschenko, Ksenija Rappaport, Julija Scharikow u. a. Russland 1998, 120 Min.