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Wie viel Verdinglichung gehört zum Leben von Frauen im Sexgewerbe? Über einige Bücher zum Thema Sextourismus, Migrantenprostitution und Schlimmeres ■ Von Helmut Höge

Demnächst will die Frauen- und Familienministerin Christine Bergmann ein Gesetz vorlegen, das die Sittenwidrigkeit des Prostitutionsgewerbes aufhebt. Gleichzeitig werden jedoch im deregulierten Dienstleistungsgewerbe die Sitten immer prostitutiver. „Die Prostitution existiert aufgrund eines Kontinuums mit anderen Formen, sexuelle Beziehungen sozial zu organisieren und auszuüben, wobei auch diese Beziehungen bereits durch eine Logik von Gewinn und Verlust vermittelt sind. [. . .] Je ,persönlicher‘ das Treffen mit einem Kunden abläuft, desto höher wird es in der Regel bewertet. Hier treffen das Versprechen der Sexualität auf Nähe und die individualisierte Arbeitskraft, die ihre Persönlichkeit, ihr Wissen, ihre Emotionalität zum Teil des Produkts macht, aufeinander“, schreibt Linda Singer in ihrem Essay „Sex und die Logik des Spätkapitalismus“, der von Judith Butler und Mareen McGrogan veröffentlicht wurde und nun auch auf Deutsch vorliegt.

Am Beispiel von 50 Thailänderinnen, die über Katalog bzw. Prostitution und Sextourismus deutsche Männer heirateten, hat die Bielefelder Soziologin Pataya Ruenkaew gerade nachgewiesen: „Es sind keine Liebesehen, aber die Bilanzen scheinen ausgeglichen zu sein. [. . .] Die Frau hat in wirtschaftlicher Hinsicht das bekommen, was sie wollte“ – und auch der Ehemann „ist nicht mehr einsam und wird gut versorgt“. In Deutschland leben etwa 20.000 Thailänderinnen. Entgegen der landläufigen Ansicht vom ebenso unwissenden wie anspruchslosen Dorfmädchen sind es überwiegend lebenserfahrene Frauen um die dreißig, die meistens ein Kind haben und der „unteren Mittelschicht“ Thailands entstammen.

Eine ähnliche Herkunft haben auch fast alle Frauen, die seit der Auflösung der UdSSR erfolgreich versuchen, so genannte Westmänner zu heiraten, um eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zu bekommen – oft der einzige Weg. Ein gerade für die nächste Berlinale eingereichter Dokumentarfilm handelt von russischen Frauen, die Amerikaner heiraten wollen. In diesem Anfangsstadium beim Aufbau einer neuen Existenz – der Eheanbahnung – scheint nur wenig auf eine „ausgeglichene Bilanz“ (im Sinne von Ruenkaew) hinzudeuten: Während die Männer naiv auf die große Liebe – in Moskau – zusteuern, sehen die durchweg intelligenteren Frauen in ihrer Heirat eher ein probates Mittel, um voranzukommen. Im Film bleibt jedoch offen, ob es ihnen gelingt.

Das einstweilen noch vage Vorankommen – im Ausland – ist auch Thema der empirischen Untersuchung von Juanita Henning, die im Auftrag der Frauengruppe „Doña Carmen“ eine Fragebogenaktion unter kolumbianischen Prostituierten in Frankfurt am Main durchführte, deren Ergebnisse nun der Lambertus-Verlag veröffentlichte. „In den Bordellen des Frankfurter Bahnhofsviertels und der Breiten Gasse arbeiten fast 1.000 Prostituierte. Die meisten stammen aus Kolumbien“, erklärt dazu die Prostituiertenzeitung La Muchacha in einer Rezension der Forschungsarbeiten von Ruenkaew und Henning. Letztere kommt in ihrem Bericht zu dem Resultat: „Nicht Armut, sondern das Bestreben, eine relative ökonomische Unterprivilegierung zu überwinden, erscheint als zentrales Motiv der von mir befragten kolumbianischen Frauen, die in Frankfurt in der Prostitution arbeiten.“

Der Impetus der beiden Wissenschaftlerinnen richtet sich auch gegen die immer wiederkehrenden Darstellungen dieser Frauen als hilflose Opfer gewissenloser Mädchenhändler. Laut Ruenkaew migrieren viele Frauen nach einer gescheiterten ersten Ehe. Dabei handelt es sich zumeist um eine freiwillige Entscheidung: Es gebe „keinerlei Belege“ dafür, dass sie durch persönlichen Zwang von dritter Seite eingeschränkt werden. Henning schreibt in einer Schlussbemerkung: „Es ist nicht so sehr die finanzielle Belastung für sich genommen, die den kolumbianischen Frauen zu schaffen macht. Ebenso wenig sind es die konkreten Bedingungen, unter denen sie hier arbeiten und leben. [. . .] Die Belastungen der Frauen aufgrund ihrer miserablen Arbeitsbedingungen werden von ihnen selbst durch den Mechanismus der Pendleremigration aufgefangen“ – sie fliegen immer mal wieder zurück nach Hause. „Nach meinen Erfahrungen ist es vor allem die allgegenwärtige gesellschaftliche Diskriminierung der Prostitution, weshalb die kolumbianischen Frauen ihre Tätigkeit als belastend empfinden [. . .] Ihr problematischer Umgang mit gesellschaftlicher Diskriminierung von Prostitution reicht vom Verdrängen und Ignorieren der gesamten, komplizierten Konstellation bis hin zu widersprüchlicher Selbstdarstellung, indem man sich – als Form des Selbstbetrugs – vor sich selbst und anderen als Opfer darstellt, weil allein unter solchen Vorzeichen die Tätigkeit der Prostitution geduldet wird.“

Ähnlich stellte sich auch den beiden New Yorker Village Voice-Mitarbeitern Sylvia Plachy und James Ridgeway bei ihrer Recherche „Inside the Sex Industry“ die Situation dar. Wobei sie jedoch – wegen des generellen Verbots der Prostitution in den USA – auf die dort praktizierten Ausweichmöglichkeiten abhoben: Pornofilm, Telefonsex, Cybersex, S/M, Sex Work as Performance Art (zum Beispiel Nacktputzen), Striptease, Go-go-Dancing, Massageangebote. Dass auch hierzulande Sexgeschäfte über E-Mail und Hotlines angebahnt, wenn nicht gar abgewickelt werden, bewog neulich einen Reporter des Berliner Stadtmagazins Zitty zu der gewagten Prognose: „Deshalb wird das alte Verständnis vom Huren-Dasein aufgelöst. Nicht mehr gibt es hier die pornografischen Medien und dort die verschämte Wirklichkeit der Bordelle. Wirklichkeit und Medien werden immer enger miteinander vernetzt . . .“

Ich halte dafür, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Anders gesagt: dass Wirklichkeit und Medien früher noch viel enger verknüpft waren als heute. Als Beleg dafür können bereits die soeben von Hans Magnus Enzensberger in seiner Anderen Bibliothek veröffentlichten „Memoiren aus dem Bordell“ von Nell Kimball gelten, die laut Vorwort einen guten „Eindruck von der Atmosphäre in einem Freudenhaus des 19. und 20. Jahrhunderts vermitteln“. Die Erfolgsgeschichte der 1854 geborenen Edelbordellbesitzerin liest sich wie alle Biografien amerikanischer Unternehmer. Ein Genre, das sich im Übrigen zur selben Zeit wie Nell Kimballs Karriere herausbildete, diese sogar beeinflusste – und Bestseller am laufenden Band hervorbrachte. Bis hin zu Bill Gates’ Success-Storys. Dass ihre Memoiren lange Zeit nicht veröffentlicht werden durften, lag wahrscheinlich an dem für die damaligen puritanischen (Hardware-)Produktionsverhältnisse allzu fortschrittlichen Software-Credo von Kimball: „Die Frauen sitzen auf ihrem Reichtum – sie wissen es nur nicht!“

Bereits frühzeitig wurde dies der Kenianerin Miriam Kwalanda eingebläut. Ihre Hurenkarriere begann im Sextourismusbusiness von Mombasa. Dort lernte sie einen Deutschen kennen, den sie heiratete. Heute lebt die 36-Jährige – von ihrem Mann getrennt – im Ruhrgebiet. Sie ist Mutter von drei Kindern. Ihrer Freundin, der Journalistin und Psychologin Birgit Theresa Koch, erzählte sie nach einer Psychotherapie noch einmal ihre ganze Geschichte: „Warum bin ich diesen Weg gegangen? Die Antwort liegt in meiner Vergangenheit. Wer meine Geschichte und damit die sich ähnelnden Geschichten vieler Mädchen und junger schwarzer Frauen in Kenia kennt, wird besser verstehen, warum ich von dort wegwollte und mein Glück woanders suchte.“

Wie viele Afrikanerinnen hat Miriam Kwalanda ein großes Erzähltalent. Sie war auch schon als junges Mädchen in Mombasa sehr selbstbewusst: „Einmal fragte mich ein deutscher Freier, wie viel wir an unseren Zuhälter abgeben müssten. Das hätte uns noch gefehlt. In Kenia organisieren die Huren ihren Job selbst.“ Ihre Freundin und Koautorin, mit der sie ihre Verwandte in Kenia besuchte, erzählt: „Aus den Geschichten der Familienmitglieder lernte ich langsam, warum das Leben von Miriam aus der afrikanischen Perspektive immer nur als sozialer Aufstieg, als eine Karriere betrachtet wird. Und ich begreife aus ihren Erzählungen, dass sie nicht nur das verwundbare und verwundete Opfer ihrer eigenen Geschichte ist, sondern auch die aktive Frau, die diesen Weg mit all ihrer zur Verfügung stehenden Kraft gegangen ist.“

Dass diese empirischen Untersuchungen und Autobiografien von Prostituierten ein Verstummen des unaufhörlichen polizeilichen Geredes über Frauenhandel und Zwangsprostitution bewirken – das wäre freilich zu schön, um wahr zu sein. Indem die Frauen selbst das Wort ergriffen, und sei es in einer Fragebogenaktion, haben sie jedoch einen Anfang gemacht, der darauf abzielt, dass sich all die Diskurse über sie als verlogene Distinktionsgewinne – auch noch auf ihre Kosten – erweisen. Am Ende wird man wahrscheinlich sogar feststellen, dass paradoxerweise im Sexgeschäft weniger Zwang und Prostituierung im Spiel ist als in den übrigen Ware-Geld-Beziehungen. Und dies wird dann noch einmal erklären, warum es nicht die (fiktiven) Mafiosi, Mädchenhändler und Zuhälter sind, die arme Opfer am laufenden Band produzieren, sondern – im Gegenteil – all die zu ihrem vermeintlichen Schutz aufgebotenen Staatsapparate, Massenmedien und Hilfsorganisationen selbst.

Linda Singer: „Sex und die Logik des Spätkapitalismus“. b_books. Berlin 1999, 18 DM Pataya Ruenkaew: Noch unveröffentlichte Dissertation im Rahmen des Forschungsprojekts „Heiratsmigration – zur Soziologie der Einwanderung thailändischer Frauen in die Bundesrepublik“, Universität Bielefeld. Deren Forschungsmagazin veröffentlichte im Heft 16/1997 einen Zwischenbericht. „La Muchacha“ Nr. 1/1999 – Rezension zu Ruenkaew und Henning: „Wir sind nicht unerfahrene, naive und passive Opfer“. Die Zeitschrift für Prostitutionsmigrantinnen wird vom Verein „Doña Carmen“ herausgegeben und kostet 1 DM. Bestelladresse: 60442 Frankfurt, Postfach 90020, Telefon (0 69) 76 75 28 80, E-Mail: DonaCarmen@t-online.de Juanita Henning: „Kolumbianische Prostituierte in Frankfurt“. Lambertus-Verlag, Freiburg 1997, 44 DM Sylvia Plachy, James Ridgeway: „Red Light“. powerHouse books, New York 1996, 25 DM Nell Kimball: „Memoiren aus dem Bordell“. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 1999, 49,50 DM Miriam Kwalanda, Birgit Theresa Koch: „Die Farbe meines Gesichts. Lebensreise einer kenianischen Frau“. Eichborn Verlag, Frankfurt 1999, 36 DM