Die Jazzkolumne
: Seelenarbeit

They had a dream: Erinnerung an die Sechziger, das Jahrzehnt des Soul Jazz

Ein Wecker klingelt, der Posaunist spielt unisono, ein Glockenspiel kreischt, die Violine furzt, der MC spricht von Wahrheit und bemüht kulturelle Codes. Darunter immer noch Blues-Riffs.

1969 war das. Den Weihnachtsabend verbrachte Roland Kirk mit „ausgewählten Instrumenten“ auf der Bühne des New Yorker Jazzclubs Village Vanguard, um seinen neuen Namen zu preisen: Rahsaan Rahsaan. Kirk als sein eigener MC, mehr schreiend als sprechend. Erzählte von Träumen, die er ausmalte, von Spirits, die ihn umgeben. In jedem Ton ist zu spüren, dass das Jahrzehnt vorbei ist. Die Dekade des Soul Jazz, der Soundtrack zum gesellschaftlichen Aufbruch. Finis.

Der blinde schwarze Multiinstrumentalist selbst wähnte sich nicht verbittert, sondern „bittersüß“. Eine Woche später nahm eine schwarze Band mit weißem Frontmann, Eric Burdon declares „WAR“, den Titel „The Vision of Rassan“ auf. Burdon in der Funktion des kulturellen Mittlers, er projizierte die afroamerikanische Musik und Erfahrung – Memphis Slim, Tobacco Road, Soul und Vision – endgültig in das Bewusstsein eines Millionenpublikums.

Der Soul Jazz, der sich Mitte der Fünfzigerjahre bereits angekündigt hatte, war selbst zunächst ein Schritt zurück gewesen – und als solcher ein Signal. Vor allem in Kreisen schwarzer Musiker wurde in jenen Tagen sehr viel über die Richtung diskutiert, die der Jazz nehmen sollte. Bebop und West Coast schienen überholt oder zumindest erschlafft, und einige empfanden, dass der Jazz sich entfernt, ja abgehoben hatte von seinen historischen Wurzeln: der schwarzen Kirche und Community. Der Oberste Gerichtshof hatte am 13. Dezember 1956 die Rassentrennung in den Bussen für ungesetzlich erklärt, und ein Baptistenpfarrer machte von sich reden, der kurz darauf zu dem Sprecher der Bürgerrechtsbewegung werden sollte: Dr. Martin Luther King Jr.

„Soul Power“ wurde in jenen Jahren zum Synonym für ein neues Selbstbewusstsein, den Glauben an die eigene Kraft, an Veränderung und Fortschritt. Soulful und funky – das bedeutete – musikalisch gesehen – vor allem, sehr bluesbetont zu spielen und an den Anfängen der schwarzen Volksmusik orientiert. Gegen Ende des Jahrzehnts landeten die so genannten Hardbopper sogar richtige Hits, „Moanin’“, „This Here“, und vor allem der „Work Song“ des vor zwei Wochen verstorbenen Kornettspielers Nat Adderley, von dem derzeit noch über 150 verschiedene Versionen auf dem Markt sind.

Nat Adderley gab bis vor wenigen Jahren noch regelmäßig Konzerte auf kleineren Bühnen, sein großer Hit gehörte genauso zum täglichen Repertoire wie die Anekdoten, die er über die Wirkungsgeschichte des Titels zu erzählen wusste. Der „Work Song“ war ein Nachhall der Lieder, die schwarze Sklaven und Strafgefangene einst bei der Zwangsarbeit gesungen hatten, das musikalische Thema, ein eingängiger Call-and-Response-Chorus, symbolisierte die Stimmung, den Geruch, den Geschmack, den Sound, das Greifbare und Verlässliche afroamerikanischer Alltagsgeschichte, sozusagen die main ingredients der oralen Tradition.

Nat Adderley spielte den „Work Song“ – unter eigenem Namen – als Titelstück der gleichnamigen LP ein. Das war im New Yorker Winter, Anfang 1960. Erst vor kurzem ist diese alte Stereo-Aufnahme in überarbeiteter Tonqualität auf CD wieder veröffentlicht worden.

Wenn die Platten, die Nat Adderley im Schatten seines Bruders aufnahm, je spektakulär waren, dann auf eine sehr leise Art. Nat Adderley war und blieb der Kornettist und zweite Frontmann der Cannonball Adderley Band, und das weit über den viel zu frühen Tod seines Bruders hinaus. Die eigenen Bands, die er in den vergangenen 20 Jahren leitete, nährten sich wesentlich vom Material des in den Sechzigerjahren bewährten Repertoires. Und die jungen Altsaxophonisten, die Nat engagierte, sollten oder wollten alle so klingen, wie sein Bruder es einst tat.

Der Pianist Bobby Timmons verwaltet bei dieser „Work Song“-Einspielung die afroamerikanische Tradition, verhindert das Wegkippen ins allzu Seichte und Liebliche souverän und seriös, ohne dass Missverständnisse aufkommen. Die Pianisten nahmen in den Adderley-Bands immer eine Sonderrolle ein, ob Bobby Timmons oder später Joe Zawinul, sie garantierten Klangfarbe und steuerten – wie Nat Adderley auch – ganz große Hits bei.

Bei dieser „Work Song“-Session steht eines der wichtigsten Jahrzehnte der Jazzgeschichte noch bevor. Auch Nat Adderley und Roland Kirk werden in den Folgejahren zusammen Aufnahmen machen. Zum Abschluss dann, im Oktober 1969, werden die Adderleys in einer Kirche in Chicago auftreten. Reverend Jesse Jackson, der spätere amerikanische Präsidentschaftskandidat, hat im Rahmen der „Operation Breadbasket“, einer drei Jahre zuvor von Martin Luther King ins Leben gerufenen Organisation, zu einem Wohltätigkeitsgottesdienst mit anschließenden Konzert gerufen.

Die selten gelungene Übereinstimmung von sozialem Engagement und Jazz ist auf der Adderley-Platte „Country Preacher. Live at Operation Breadbasket“ dokumentiert. Die Aufnahme, die mit einer Einführung von Jesse Jackson, „Walk Tall“, beginnt, ist das letzte große Statement des Soul Jazz der Sechzigerjahre. Die darauf enthaltene Nat-Adderley-Komposition „Hummin’“ transportierte wie kaum ein anderer Jazz-Titel noch einmal die Basics, den Soul, die Mahnung, dass besonders die alten Menschen die wesentliche kulturelle Erfahrung der schwarzen Community repräsentieren und dass sie die Weisheit der Kultur zu bewahren haben.

„Hummin’“ wurde zur letzten Hymne des Soul Jazz. DieMusik, die sich so nannte, verlor sich in den Siebzigerjahren in psychedelischen Experimenten, im additiven Mix mit anderen Genres – und schließlich im Rekurs auf die gute alte Zeit.

Christian Broecking