Neue feine Unterschiede

Wer Geld besitzt, hortet Zukunft: Nicht der demonstrative Konsum, sondern die unsichtbare Vorsorge hebt die neuen sozialen Gräben aus. Privates Vermögen ist Sicherheit – nie war es so wertvoll wie heute ■ Von Barbara Dribbusch

Pünktlich zum Jahreswechsel läutete Kanzler Schröder die Zukunft ein. Der Kanzler legte die neuen Steuerpläne vor und predigte dazu passend: „Wir können nicht dasitzen und abwarten, was der Staat, was die Politik tun können. Wir alle müssen unsere Zukunft in die eigenen Hände nehmen und selber mehr Verantwortung tragen.“ Wenn neuerdings in der Politik von Verantwortung die Rede ist, geht es stets ums Geld – und zwar um das selbst verdiente, selbst angelegte, das private Geld. Nie war es so wertvoll wie heute. Das ist die Neujahrsbotschaft.

73 Milliarden Mark mehr dürfen Unternehmer und Beschäftigte künftig von ihrem Selbstverdienten und Selbstangelegten behalten, so steht es in der Steuerreform. Im Gegenzug müssen rund 50 Milliarden Mark in den nächsten Jahren bei den öffentlichen Ausgaben eingespart werden. Bundesbesitz wird verkauft, darunter möglicherweise auch Wohnungen. Vielleicht wird man künftig bei der Arbeitslosenhilfe kürzen. Aus den Rentenkassen ist ohnehin nicht mehr viel zu erwarten. Der Staat, so zeigt die jüngere Entwicklung, zieht sich zurück. Das hat Folgen.

Das Erwerbseinkommen und das persönliche Vermögen, private Gelder werden künftig in Deutschland noch wichtiger als Sicherungsmittel. Das öffentliche Geld hingegen und damit das Recht auf Sozialleistungen ist immer weniger wert. Aus Systemvertrauen wird „Geldvertrauen“, um mit dem Soziologen Niklas Luhmann zu sprechen. Oder anders: Geld steht für viel mehr als nur für Konsum – es steht für das Versprechen von Sicherheit.

Geld, schreibt Luhmann, ermögliche „eine Konzentration der Vorsorge für die Zukunft“. Das Thema der 60er- und 70er-Jahre war der soziale Aufstieg. Das neue Thema ist die Sicherung von Zukunft. Wer ein Vermögen anhäuft, sichert sich das Gefühl, Entscheidungsfreiheit zu haben, nicht allen Risiken ausgeliefert zu sein. Damit schafft Geldbesitz neue, unsichtbare Gräben.

Geld dient zwar immer noch dem unmittelbaren Konsum, doch diese Bedeutung geht zurück. Im Jahre 1965 wandte eine durchschnittlich verdienende westdeutsche Familie mit zwei Kindern mehr als 30 Prozent der monatlichen Haushaltsausgaben für Nahrung auf, 12 Prozent für Bekleidung und Schuhe. 1998 war dieser Anteil auf 14 Prozent für die Nahrung und 6 Prozent für Bekleidung und Schuhe gesunken.

Die täglichen Konsumgüter werden relativ gesehen immer billiger. „Die Verbraucher leben heute im Schlaraffenland, was die Einzelhandelspreise betrifft“, sagt Hubertus Pellengahr, Sprecher des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels. Die so genannten Billigmarken bieten längst vergleichbare Qualität wie die bekannten Labels.

Geld wird damit weniger wichtig für den unmittelbaren Konsum – außer bei den ganz Armen –, aber umso bedeutsamer für den Erwerb unsichtbarer Werte. Dazu gehört nicht nur der emotionale Mehrwert von Markenklamotten oder die menschliche Zuwendung durch Dienstleistungen, sondern vor allem das Gefühl, frei entscheiden zu können. Geld ist weniger Konsumwirklichkeit, sondern vor allem „Wahlmöglichkeit“, wie der Medientheoretiker Norbert Bolz schreibt. Die neuen Unterschiede zwischen Armen, Mittelverdienern und Reichen sind weniger äußerlich als früher.

Vorbei sind die Zeiten, als der französische Soziologe Pierre Bourdieu noch behaupten konnte: „Die Angehörigen der unteren Klassen machen von der Kleidung einen realistischen, oder wenn man will, funktionalistischen Gebrauch ...“ Heute spielen gerade auch für ärmere Jugendliche Klamotten mit teuren Markenlabels eine große Rolle. Doch die Labels stehen eben nicht mehr für soziale Unterschiede.

Denn wer ist besser dran: der Lehrling, der nebenbei noch hart ackert, um sich ein paar neue Diesel-Jeans leisten zu können, oder die gut verdienende Akademikerin, die zum smart-shopping bei Aldi vorfährt, um sich später vor ihren Freundinnen mit ihren Schnäppchen zu brüsten? Sie hat die Wahl, entweder im Delikatessenladen oder mal aus Jux im Billigmarkt einzukaufen. Und genau diese Entscheidungsfreiheit macht den Unterschied. Die neuen sozialen Gräben sind unsichtbar, aber umso tückischer.

Ein gutes Beispiel dafür ist die private Verschuldung, die in den vergangenen Jahren ständig zugenommen hat. Wer sich verschuldet und auf Raten Möbel oder ein Auto kauft, büßt Zukunft ein. Er muss seine Schulden abzahlen, während der VW-Golf, die Ikea-Sitzgruppe beständig an Wert verlieren. Der Konsumkredit gestatte zwar „den unmittelbaren Genuß der verheißenen Güter“, schließe aber zugleich „die Hinnahme einer Zukunft“ ein, „die nur Fortsetzung der Gegenwart ist“, beschrieb Bourdieu. Das gilt noch heute. Eine hohe Verschuldung durch Konsumentenkredite ist inzwischen ein Merkmal der ärmeren Schichten.

Wer sich schuldenfrei Güter mit hohem emotionalen Mehrwert leisten kann, genießt sie mehr als der, der sie abbezahlt. Es macht in der Wohnqualität nicht unbedingt einen Unterschied, ob man zur Miete wohnt oder im eigenen Haus. Doch der unsichtbare Mehrwert der eigenen Immobilie ist hoch. Wer genug Geld hat, um ein Haus zu kaufen, erwirbt ein Gefühl existentieller Sicherheit, buchstäblich einen festen Platz im Leben. Ein eigenes Haus aus Stein kommt dem Wunsch nach Unsterblichkeit am nächsten – und daher ist es wichtigstes Erbstück.

Ein Erbe wiederum verspricht Sicherheit noch für die Kinder, also für die Zukunft. Wer erben wird, kann beruhigt nach vorne blicken. Der tiefste der neuen, unsichtbaren Gräben verläuft heute zwischen Erben und Nichterben.

Erbschaften und privates Vermögen verändern unterschwellig das Lebensgefühl, besonders in dem Maße, in dem die Solidarsysteme bröckeln. Die gesetzliche Rente wird in 20, 30 Jahren für viele nur noch ein Mindesteinkommen garantieren. Wer nur wenig ansparen kann, bei dem schleicht sich Zukunftsangst ein.

„Schon aus Selbstschutz darf ich nicht an später denken“, sagt eine 45-jährige Berliner Sozialpädagogin, die als Honorarkraft in einem Obdachlosenheim arbeitet, für 2.500 Mark Entgelt. 200 Mark kann sie für die Rente ansparen: eine lächerliche Summe. Später wird sie aufstockende Sozialhilfe beantragen müssen – trotz Ausbildung und obwohl sie von ihren Arbeitgebern hoch geschätzt wird.

Wer Geld hat, kann hingegen Zukunftschancen einlagern. Aber nicht nur das. Wer vermögend ist, kann auch noch etwas anderes Nichtgreifbares kaufen: Zuwendung. In Zeiten, in denen sich die Familienstrukturen auflösen, bekommt das eine neue Bedeutung.

Wer Geld hat, kann sich privat bezahlte Psychotherapie, im Alter privat bezahlte Krankenpfleger leisten. „Die privaten Dienstleistungen am Menschen sind ein wachsender Markt“, hat schon der ehemalige Sozialminister Norbert Blüm (CDU) erkannt.

Wer Geld hat, kann auch seinen Kindern mehr Zukunftschancen eröffnen. Privat bezahlte Kinderfrauen geben mehr Zuwendung, private Nachhilfesstunden helfen in der Schule. Teure Auslandssemester in den USA steigern die späteren Berufschancen.

Geld schafft somit neue Gräben, indem es gleichzeitig für neue Sicherheiten sorgt. Genau deshalb entwickelt sich die Geldanlage jetzt zum Fetisch auch für Durchschnittsverdiener. Die Steuerreform begünstigt den Aktienmarkt. Die Wirtschaftspresse mit Geldanlagetipps boomt. „In sieben Jahren die erste Million“ verspricht der Finanzanimateur Bodo Schäfer und zieht wie ein Erweckungsprediger durch das Land. Geld ist gut, holt es euch!, lautet seine Botschaft. Geld als Hoffnungsträger löse „religiöse Sicherungsmittel“ ab: Das hat Luhmann schon erkannt.

Die Tipps für Investmentfonds und Aktienkauf sollen dabei der Mittelschicht das Gefühl geben, fast so wie die Superreichen agieren zu können: Ihr dürft sogar ein bisschen mit Geld spielen! Wer an den Aktienmärkten spekuliert, trennt Geld endgültig ab von der aktuellen Konsumwirklichkeit. Doch genießen kann man den Geldbesitz nur, wenn andere eben weniger haben – nur so funktioniert das System. Umgekehrt schafft erst der Wohlstand der einen ein Gefühl von Knappheit bei den anderen.

Vor 40 Jahren verfügte ein durchschnittlich verdienender Arbeitnehmer im Monat über eine Kaufkraft im Wert von heute (!) etwa 1.300 Mark. Er besaß vielleicht eine Vespa, urlaubte im Bayerischen Wald, die Kinder trugen nacheinander die Popeline-Anoraks auf. Heute gilt dieses Konsumniveau als arm. Damals aber nicht – die meisten andern hatten auch nicht mehr.

Auf die Differenz kommt es an, um sich arm oder reich zu fühlen. Deswegen erzeugt eine Politik der breiten Verteilung von Sozialleistungen wie etwa Kindergeld auch wenig Dankbarkeit. Schröder musste das schon erkennen. Im vergangenen Jahr hatte die Regierung mit niedrigeren Eingangssteuersätzen und höherem Kindergeld Wohltaten verteilt. „Wir haben gekämpft um das Kindergeld!“, hatte der Kanzler ein ums andere Mal geworben. Es half aber alles nichts: Die SPD verlor bei jeder der Landtagswahlen erneut an Stimmen. Wenn fast alle anderen auch ein bisschen mehr an staatlicher Hilfe bekommen, gilt dies dem einzelnen Begünstigten nur wenig. Für Aufregung sorgt vor allem das Gefälle zu den andern.

Das sieht man auch am Streit um die Vermögensbesteuerung. Der Verdacht drängt sich auf, dass hier auch eine Neiddebatte zwischen Mittelschicht und Superreichen geführt wurde. Denn selbstverständlich findet es die Mittelschicht gut, dass man im Kapitalismus zu Geld kommen kann. Nur dass andere eben noch mehr, viel mehr, Geld machen, führt plötzlich zu einem Gefühl der Ungerechtigkeit. Vorsorglich betonte Kanzler Schröder denn auch immer wieder, dass die neue Mitte selbstverständlich verschont bleiben müsse von neuen Vermögensabgaben. Dabei müsste eine gleichmäßige Feinverteilung auch von der Mitte nehmen.

Die Rede von der neuen materiellen „Eigenverantwortung“ lässt nichts Gutes ahnen. Der künftige private Reichtum der einen wird bei den anderen immer ein Gefühl des Mangels erzeugen. Und umgekehrt: Die Vermögenden sind heimliche Voyeure, sie genießen ihr wohliges Sicherheitsgefühl erst mit Blick auf jene Risikoträger, die mit einem kleinen Arbeitseinkommen in der Gegenwart rudern müssen. Die Politik könnte aus diesen neuen heimlichen Gräben Konsequenzen ziehen. Die Armen rehabilitieren, statt sie heimlich mit der Rede über „Eigenverantwortung“ abzuwerten: Sie sind die wirklichen Risikoträger in der Eigentumsgesellschaft.

Vielleicht aber drehen sich die Verhältnisse künftig von alleine um: nach dem nächsten großen Börsencrash.