Ökonomie des Hypes

Verwertungsketten: Was hat eigentlich das Verschwinden des Samstags mit den „Synergie“-Effekten heutiger Kino-Promotion zu tun?  ■ Von Klaus Walter

Anlässlich der Reihe „don't stop – filme für die Neunziger“ im Frankfurter Kunstverein hielt Klaus Walter einen Vortrag unter dem Family Fodder entliehenden Titel „Film Music is empty, it pleases me.“ Wir dokumentieren eine stark gekürzte und überarbeite Version.

Es war einmal am Samstag: Um halb vier werden in neun Fußballstadien neun Bundesligaspiele angepfiffen. Kurz vor fünf beginnt im Radio die Schlusskonferenz-Reportage. Tragödien im Sekunden-Cut-Up: „Tor für Werder/Elfmeter in Kaiserslautern/ Rote Karte für Kracht..“. Dieser Samstag ist nicht mehr. Kein Fanzine wird sich heute „When saturday comes“ nennen. Kein Nick Hornby wird aus einem x-beliebigen Samstag Entwicklungsromane männlicher Adoleszenz herausbrechen können. Nicht einmal Bernd Begemann wird sich erinnern, wie das war: „Gefangen in einem Samstagnachmittag“.

Fangkräfte und Fallhöhe hat der Samstag verloren. Zwecks Optimierung der TV-Vermarktung finden am Samstag nur noch fünf Spiele statt, dazu je zwei am Freitag und Sonntag. Wer den Samstag als kompletten Bundesliga-Spieltag zurückhaben will, ist ein „Träumer“. Meint Uli Hoeneß. Bei den weniger Verträumten zahlt sich derartiger Pragmatismus aus: „Bayern Münchens Manager Uli Hoeneß ist von der angesehenen Marketing-Zeitung Horizont zum ,Mann des Jahres' gekürt worden. Er erhält den Preis in der Sparte Unternehmen für seine Rolle bei der Umwandlung des Fußballklubs zu einem modernen Wirtschaftsunternehmen. Wie kein zweiter verstehe er es, den Sport und das Geschäft auf eine für beide Seiten Gewinn bringende Weise zu vernetzen.“ Sätze von erhellender Drastik, aus der Frankfurter Rundschau vom 16.12.99. „Die angesehene Marketing-Zeitung Horizont“ verdankt ihr Ansehen nicht zuletzt dem Wirken flexibler Mitarbeiter in mittleren Jahren, die Marketing als eine Art Fortsetzung link(sradikal)er Politik mit moderneren Mitteln betrachten.

Am selben Tag im selben Sportteil: „Der spanische Zweitligist UD Levante hat als einer der ersten Fußballklubs in Europa die Talentpflege systematisch zu einem Geschäft entwickelt. Der in Valencia beheimatete Club hat insgesamt 79 Profis unter Vertrag. (...) Die meisten Spieler seines Aufgebots hat Levante an Vereine der dritten und vierten Liga ausgeliehen, damit die Profis in Form bleiben. Wechsel von Talenten wie Juanfran zum FC Barcelona brachten Millionensummen in die Kassen.“

An der Schnittstelle von „Talentpflege“ und Menschenhandel bewegen sich auch viele Fußball-Unternehmen in Deutschland. Nehmen wir den SV Waldhof Mannheim: Ein sogenannter „Traditionsklub“ mit dem sweet smell of Maloche, berühmt für seine „ehrlichen Arbeiter“, zumal in der Position des hardworking Manndeckers: Die Förster-Brüder, Kohler, Wörns! Lange Zeit war Tradition das Einzige, woran sich die Fans des SV Waldhof laben konnten. Erst im letzten Sommer gelang der Aufstieg in die zweite Liga. Nun hat der SV Waldhof zwar keine 79 Profis unter Vertrag wie der DU Levante, aber in der vergangenen Saison trugen immerhin ca. 40 Spieler das Mannheimer Trikot.

Das Unternehmen benutzt Spieler als Spekulationsobjekte. Sein Trainer Uwe Rapolder verfügt über hervorragende Kontakte zu Spielervermittlern. Vor allem zu solchen, die sich auf den Handel mit Ki-ckern aus Afrika spezialisiert haben. Diese werden im Dutzend billiger eingekauft. Wer sich durchsetzt, darf bleiben. Wer nicht, wird immer gewinnbringend an Regional- oder Oberligisten weiterverdealt. Das Startkapital für die Spekulationen bekam der SV Waldhof von Herrn Kölmel. Dr. Michael Kölmel, 45, ist Mitbesitzer von elf Fußball-Unternehmen, durchweg „Traditionsklubs“ wie der Alemannia Aachen, Borussia Mönchengladbach – und des SV Waldhof.

Seine „Sportwelt Beteiligungsgesellschaft“, die vor Weihnachten auch dem 1. FC St. Pauli eine Beteiligungsofferte machte, ist eine Tochterfirma der Aktiengesellschaft Kölmel/Kinowelt Medien, eines der größten Film-Verleiher Deutschlands auf dem Sprung zum global player. Neulich war Kölmels Waldhof mal wieder live zur besten Sendezeit im ZDF. Das Pokalspiel gegen Bayern München ging verloren, die Übertragung war trotzdem ein Erfolg für die Firmen Sportwelt & Kinowelt. Denn Millionen Zuschauer lasen zum ersten Mal drei kryptische Worte, die ihnen in den folgenden Tagen immer häufiger begegnen sollten: die Worte Blair Witch Project. Die drei Worte prangten auf den Trikots der Mannheimer Spieler und sie drehten sich auf den Banden, die das Spielfeld umranden. Fortan waren sie verankert in Millionen Gedächtnissen. Ein Fall von Synergie wie aus dem Bilderbuch der Horizonte-Redaktion: Die Firma Sportwelt vermarktet den SV Waldhof, die Mutterfirma vermarktet The Blair Witch Project – den Film. Diese Geschichte ist eine von Millionen, die sich mittlerweile um Blair With Project ranken.

In der Blair Witch Virtual Mall werden Ideen & Bilder verkauft, Musik & Mode, Kampagnen & Websites, Videos & all das. Der „eigentliche Film“ Blair Witch Project ist lediglich ein Bestandteil des integralen Produktes, ein Glied in der „Wertschöpfungskette“ Blair Witch Project (BWP). Unter dem Produkt-Dach BWP werden Produkte aller Art, in allen Aggregatszuständen verkauft. Vermutlich wird BWP in die Geschichtsschreibung eingehen als Prototyp einer massenhaften virtuellen Irritation. 1999 – das Jahr in dem „eigentlich“ und „uneigentlich“ endgültig un-unterscheidbar wurden, mit allen Implikationen: nicht nur auf der narrativen Ebene an der Frage: Wahrheit oder Fiktion? Nicht nur an dem Topos „Mockumentary“. BWP ist mehr als nur einer von vielen kommerziell erfolgreichen Filmen der jüngeren Vergangenheit, die auf der narrativen Ebene die Grenzen von Eigentlichkeit und Un-Eigentlichkeit aufheben: Matrix und eXistenZ oder der Mystik-Special-Effects-Mumpitz Das Geisterhaus etwa.

Darüberhinaus aber erweitert BWP die Verwischung von „Realitäten“ auf Sphären über den „eigentlichen“ Film hinaus. Diese Ausweitungen – selten lockte derart das „Rhizom“ als wärs ein Märchen aus dem Wunschmaschinenpark von Deleuze & Guattari. Das unkontrollierte/unkontrollierbare Morphen von BWP-Items & Spurenelementen ist gleichermaßen Bedingung für den Impact wie Resultat des Impacts. Impact meint mehr als schlichten „Erfolg“: Eindruck, Wirkungsmacht, Folgeschäden.

Die Ausweitungen über den „eigentlichen Film“ hinaus sind zunächst Bedingung für den Impact, ante festum: der erste Internetfilm. Dank BWP lernen Millionen Mediawatcher das Wort „Mockumentary“ – soweit: Bedingung, Voraussetzung für den Impact!

Dank BWP lernen Millionen Mediawatcher, wie man mit einem Mini-Budget eine maximale Internet-Marketing-Kampagne in Szene setzt. Resultat des BWP-Impacts, post festum: das unkontrolierte Morphen durch Eigentlichkeitswände. Das Integralprodukt BWP trifft auf ein globales Publikum, das dem öden Wort „interaktiv“ neuen Sinn zu geben scheint. Im Radio&TV-Alltag signalisiert das Prädikat „interaktiv“ lediglich die Integration des Konsumenten in den Prozess des medialen Handels. Wir verkaufen dir unser Programm, du darfst an diesem Verkaufsvorgang teilnehmen, indem du Teil unseres Programms/Produkts wirst. Bei BWP funktioniert der interaktive Aspekt multipel und er verwischt die Grenzen von Ursache und Wirkung. Ursache war: die Lancierung der Mockumentary-Narration via Internet. Wirkung ist: „rhizomatische“ Fortschreibungen der Narrationen jenseits des „eigentlichen Films“ in allen möglichen und unmöglichen Feldern & Bildwelten.

Zwei Beispiele aus der aktuellen Ausgabe des US-Pop-Magazins Spin. Naheliegend: eine Modestrecke im BWP-Design, junge Frau im dunkelgrauen Wald, dark & gothic. Weniger naheliegend: ein Foto des amerikanischen Musikers Cpt.Beefheart, in Kunstzirkeln besser bekannt als Don Van Vliet, illustriert einen Text mit der Überschrift: „The strangest album ever sold – The Making of –Trout Mask Replica'“. Das grobkkörnige Foto des jungen Beefheart in waldiger Herbstlandschaft – todsicherer Erinnerungsposten für den rockhistorisch beschlagenen Spin-Leser – wird in die Gegenwart rekontextualisiert als Beefheart in BWP-Setting. Die Headline variiert ähnliche, tatsächliche und mögliche BWP-Headlines: „The strangest movie ever sold“.

„The Making of Trout Mask Replica“: In den letzten Jahren erleben wir ein rapide ansteigendes Interesse an Labor- & Hinter-den-Kulissen-Reportagen unter dem Oberbegriff „The Making of...“. Was bis vor kurzem Privileg der Alexander Kluges dieser Welt war, ist auf den Hauptstraßen angekommen. Zur besten Sendezeit zeigt RTL eine „intelligente“ Selbst-De-Konstruktion von Verona Feldbusch in the making. Feldbusch enthüllt, dass ihre Dativschwäche und Restdummheit ein Making ist. Die undumme Verona plaudert hinter den Kulissen über die dumme Verona vor der Kamera. Mit dem Making-Trick generiert Feldbusch eine ganz neue Abteilung innerhalb ihrer Produktpalette. Fortan verfügt sie über zwei Publika: hier die alten, ungebrochenen „authentischen“, „eigentlichen“ Feldbusch-Fans – dort die neuen, gebrochenen, unauthentischen, uneigentlichen, „intelligenten“ Feldbusch-Watcher aus dem Camp (Camp?) der Media-Analysten. Arsch und Titten sehen beide Camps.

Klaus Walter ist Autor, DJ und Moderator der HR-Sendung „Der Ball ist rund.“