Das Schweizer Nildelta

■ Die Vorschau: Am Sonntag liest Markus Werner im Ambiente aus seinem skurrilen Roman „Der ägyptische Heinrich“

Heinrich Bluntschli ist ein harmloser Schweizer Familienforscher. Das sind normalerweise verschrobene Menschen, die sich monatelang in Archiven vergraben, weil sie endlich wissen wollen, wie ein Familienstammbaum aussieht oder wie ein Name sich in den Jahrhunderten so verändert. Menschen also, die letztlich erforschen, was außer ihnen selbst niemand so richtig vom Hocker haut. Warum also macht man daraus, wie es Markus Werner mit seinem Buch „Der ägyptische Heinrich“ getan hat, einen Roman? Antwort Nummer eins: Weil gute Romane oft von Leuten erzählen, die man im wirklichen Leben nicht einmal treffen wollte. Antwort zwei: Weil unser Protagonist nicht in Aktenkellern versauert, sondern hinausgeht und eine Reise unternimmt zu seinem Ururgroßvater. Es ist eine Reise, die die Realität nie verlässt und trotzdem phantastische Züge trägt.

Im Zimmer der Großmutter hing ein Bild. Als der Ich-Erzähler noch klein war, übte es eine eigentümliche Faszination auf ihn aus. Warum, weiß eigentlich keiner so recht. Aber es war auch nicht das Bild an sich, was ihn in den Bann zog. Es waren die Geschichten, die sich um es herum rankten und die die Großmutter äußerst bereitwillig, wenn auch nicht immer historisch ganz abgesichert, erzählte. Auf dem Bild zu sehen ist, wie der Titel schon sagt, der ägyptische Heinrich.

Dieser Heinrich Bluntschli, seinerzeit Generaldirektor der staatlichen Salzwerke im Land am Nil, zieht sich als Phantom durch das Buch wie durch die Gedankenwelt des nunmehr äußerst erwachsen gewordenen Protagonisten. Zwei Reisen, verbunden durch einen merkwürdigen Zwang: Da ist zum einen die tatsächliche Reise ins heutige Ägypten, ganz klassisch 'auf den Spuren von ...', zum anderen die metaphorische, zurück in die Familiengeschichte. Beide werden immer wieder im Punkt der Kindheitserinnerung des Ich-Erzählers zusammengeführt. „... und bis auf den heutigen Tag kann ich das Wort maßgeblich nicht hören, ohne an die Großmutter zu denken, von der ich es lernte.“

Die Großmutter ist das Bindeglied. Das spärliche Erbteil des Enkels bestand aus einem blauen Heft, in das die Oma alles hineingeschrieben hatte, was über den Heinrich in Erfahrung zu bringen war. Dazu Briefe des Ururgroßvaters und das Kochbuch seiner Frau. Das ist nicht viel; dennoch genug, eine romanträchtige Suchbewegung auszulösen.

Auf der Spurensuche in Kairo und Umgebung lässt Markus Werner die unterschiedlichen Gegenwarten genauso aufeinanderprallen wie die Bilder, die man sich Mitte des 19. Jahrhunderts und (mitunter gar nicht so davon unterschieden) heute vom „Land der Pharaonen“ macht. Beides bekommen wir aus der Perspektive des Ururenkel-Ichs zu lesen. „Ich merkte bei jedem Schritt: Fast nichts von dem, was ich sinnlich wahrnahm, was mich umgab und prägte, ob ich es guthieß oder verwarf, hatte Heinrich gekannt.“ Doch die scheinbare Eindeutigkeit kann der Protagonist, je weiter die Suche voranschreitet, immer weniger aufrecht erhalten. Nur eine Seite weiter heißt es: „Wie auch immer, wir teilten die Vorbehalte, ich und mein Ururgroßvater.“

Geschickt läßt Werner Bilder und schnöde Alltäglichkeit ineinanderfließen. Stilistisch versiert gerät die skurrile Geschichte der Schweizer Kolonie in Alexandrien und Kairo auch zum Abbild der Wahrnehmung von Welt. Heinrich und sein Ururenkel schlendern schließlich gemeinsam durchs Nildelta. Ob ihm das Bibelwort, das er einst ausgelegt habe, noch präsent sei? „Ja, sagte er. Gegen den plötzlich vernehmbaren, scheinbar anschwellenden Lärm des Verkehrs ankämpfend, rief ich: Wie hieß es? In der Welt habt ihr Angst, flüsterte er, als gehe es um eine unerhörte, für mich allein bestimmte Neuigkeit.“ Tim Schomacker

16. Januar, 20 Uhr im Ambiente