Weißes Lauschen

Berlin Scanner: Nichts reden? Vielleicht sogar nichts denken? Gute Idee. Zwischendurch ist allerdings richtig was los. Im Raum der Stille am Pariser Platz war ■ Volker Weidermann

Im Raum der Stille herrscht mächtig Lärm. Lärm von Presslufthammern, Kreissägen, Reisebussen, Touristengeschwätz und Currywurstanpreisern. Lärm aus der Draußenwelt, vor der dies kleine Refugium eigentlich schützen sollte. Aber für Lärmschutzfenster gibt es noch kein Geld. Vom Senat auch nicht. Der hat schließlich schon einen Raum in bester Lage zur Verfügung gestellt: direkt am Pariser Platz, im rechten Seitenflügel des Brandenburger Tors.

Im Empfangsbereich sitzt eine kleine graue Dame am Tisch. Sie sitzt freiwillig hier und unbezahlt. Sie ist eine von 80 „Betreuern“, wie sie sich nennen, die hier abwechselnd jeden Tag von 11 bis 16 Uhr Dienst tun. Sie sitzen im Dienst der Stille: Vor über fünf Jahren wurden dem „Förderkreis Raum der Stille in Berlin“ im rechten Flügel des Brandenburger Tores zwei Räume zugewiesen, die sie als eine Art Besinnungsoase im Hauptstadtaufbautamtam herrichten sollten. Das haben sie gemacht. Und jetzt sitzt hier also jene graue Dame an ihrem Tisch und schweigt, und wenn man nach Informationen über die Ruheräumlichkeit hier fragt, dann deutet sie nur kurz auf ein weißes Faltblatt vor sich, auf dem in Riesenlettern das Wort STILLE prangt.

Dabei herrscht hier im Empfangsraum noch gar kein Redeverbot. Damit beginnt es erst, wenn man die erste von zwei schweren Rauchglastüren durchschreitet. Hier kommt man zunächst in so eine Art Ruheschleuse. Man wartet kurz in einem Zwischenraum, bis sich die Tür zum Lärm der Welt, die man gerade durchschritten, hinter einem geschlossen hat, dann kommt die nächste Rauchglastür und man ist da – im Raum der Stille. Ganz allein.

Der Raum selbst ist eher grässlich: ein christlicher Gemeindesaal, mit langen beigefarbenen Leinenvorhängen abgedunkelt, schwarzem Steinfußboden und zwei grauen Stuhlreihen, die alle in Richtung eines dunkelbraunen Wandteppichs ausgerichtet sind, der mit einem Neonstrahler ausgeleuchtet wird. Vorne liegt ein kleines helles Steinchen neben einem großen gebrochener Sandsteinbrocken. Außerdem liegen so graue Lümmelkissen auf dem Boden. Sonst nichts.

Jetzt kann man hier also so sitzen und den leisen Lärm schön auf sich wirken lassen und den erleuchteten Webteppich und die Gedämpftheit des Lichts. Vielleicht kommt ja mal jemand? So’n bisschen sitzen? Nichts reden? Nichts denken vielleicht sogar? Gute Idee. Sehr gute Idee doch, oder? Da: Die Lärmschleuse öffnet sich. Zwei Italienerinnen mit schweren, leinenen Rucksäcken treten schwatzend ein, verstummen aber sofort, als sie den in der ersten Stuhlreihe Schweigenden erblicken. Die eine setzt sich mit dem Rücken zum Webteppich auf das Lümmelkissen, die andere auf den Stuhl ihr gegenüber, und sie sehen sich an und spielen das „Ansehen- und-nicht-lachen-Spiel“. Es klappt nicht. Sie lachen ständig albern rum. Ich schaue strafend. Sie fühlen sich nicht wirklich gestört. Gehen dann aber bald.

Dann kommt ein langhaariger Endzwanziger mit buntem Schlips und blauem Jackett hastig durch die Ruheschleuse, setzt sich etwa zehn Sekunden hin und verschwindet wieder. Was der wollte? Keine Ahnung. Drogen übergeben, und ich habe ihn gestört? Aber wo ist der Abnehmer? Hat schon von draußen bemerkt, dass da noch jemand sitzt und die kriminelle Ruhe stört? Na, jedenfalls ist der Blaujackige schon wieder weg. Vielleicht klappt’s nächstes Mal. Viel Glück im Ruheraum der Zukunft!

Dann kommt ein Uraltpärchen. Sind so fünfundachtzig vielleicht und nicht mehr richtig gut zu Fuß. Die gebrechliche Dame hört auch nichts mehr, weswegen sie den Sinn des Ruheraumbesuchs nicht recht einsehen will. Sie stößt ihren Mann mit dunklem Hut ständig so an und deutet mit dem Kopf in Richtung Ausgang. Er bekommt einen roten Kopf vor Empörung darüber, dass sie ihm das einzige bisschen Ruhe am Tag nicht gönnt und sitzt ihr Rumoren aus. Als sie endlich aufgegeben hat, steht er auf, und sie schlurft erleichtert hinterher.

Zwischendurch ist hier richtig was los. Zwei Türken in dunklen Anzügen kommen zu uns in den Raum, setzen sich, beten kurz und sind wieder fort. Dann zwei Lackblondinen, eine mit kurz geschorenem Haar, die andere mit langen Locken, setzen sich hinten ins Eck. Sehen aus wie die geschwätzigsten Damen der Welt. Sie sitzen und sitzen, bleiben und schweigen schön gemeinsam. Mal den Redezwang bezwingen. Vielleicht machen die so eine Art Mutprobe oder Leistungsschau.

Allein kommen wenige. Der Raum der Stille ist ein Gesellschaftsraum. In dem man sich trifft, wo man zusammen hinkommt. Die eigenen widerborstigen Kinder mit reinschleift. Die Einkäufe abstellt. Die dringendsten Gedanken fasst. Gebete betet. Dunkle Geschäfte macht oder davon träumt. In Ruhe dem Hauptstadtlärm lauscht. Oder gar nichts macht. Überhaupt nichts. Nur so sitzt. Und wartet. Und wartet. Und schaut.Raum der Stille, Pariser Platz, im Brandenburger Tor