Den Steppkes schwinden die Sinne

Viele junge Talente zeigen dem Ball die kalte Schulter, weil Fußball zu früh als Arbeit verstanden wird und ausgebildete Kindertrainer fehlen ■ Aus Hamburg Jörg Feyer

Trainingsalltag in einer F-Jugend, irgendwo vor den Toren Hamburgs: Zehn Minuten stehen sich die achtjährigen Jungs nun schon paarweise gegenüber, biegen ihre kleinen Oberkörper weit nach hinten, um Schwung für den nächsten Einwurf zu holen. Immer wieder. Danach schieben sie sich die Kugel per Innenseitstoß zu. Lässt die Disziplin in der fast 20-köpfigen Gruppe bei solchen Übungen zwangsläufig zu wünschen übrig, werden die kleinen Kicker schon mal zur Ehrenrunde um den Sportplatz geschickt. Laufen hat noch niemandem geschadet. Denken sich gewiss auch einige der anwesenden Eltern.

Ist Fußball nicht auch ein Laufspiel? Ja, und vor allem ein Spiel, das mit stupidem Training schon verdorben werden kann, bevor es richtig interessant wird. Würde wohl Ingo Wulff erwidern. Der 51-jährige Grundschuldirektor, beim Hamburger Fußballverband (HFV) für die Kindertrainer-Lehrgänge verantwortlich, ist ein überzeugter „Verfechter des spielgemäßen Ansatzes“, plädiert dafür, „Anleihen aus dem Straßenfußball“ ins Training der Kleinsten zu integrieren. „Früher haben die Kinder Technik auch nicht isoliert trainiert, sondern sie haben im Spiel ihre Fähigkeiten entwickelt.“

Tja, früher. Früher gab es noch keine F-, geschweige denn eine G-Jugend. Früher kamen die Kinder frühestens mit neun oder zehn Jahren in die Vereine. Kinder, die vorher zwei, drei, vier Jahre schon gegen alles gekickt hatten, was sich irgendwie kicken ließ, die im Wald, auf Wiesen und Straßen einfach im Spiel mit Älteren gelernt hatten. Trial and error. Über diesen Bewegungserfahrungsschatz verfügen viele Kinder, die heute in die Vereine kommen, nicht mehr – zumal nicht in zersiedelten Ballungsgebieten, wo die Spielräume dem Flächenfraß des Verkehrsunwesens geopfert wurden. Ingo Wulff beginnt seine Lehrgänge, die Theorie und Praxis an zwei Samstagen ganztags und vier Freitagabenden vermitteln, denn auch nicht mit einem Lehrvideo aus der Ajax-(Amsterdam)Schule, sondern schiebt eine TV-Reportage des Bildungspublizisten Reinhard Kahl in den Rekorder. Titel: „Das Schwinden der Sinne“.

Würden koordinative Defizite nicht frühzeitig ausgeglichen, so Wulff, dann seien sie „später bei manchen Kindern so groß, dass sie fast automatisch aus dem Fußball rausfallen, wenn er athletischer wird“. Denn irgendwann werde es „unmöglich, koordinative Versäumnisse noch aufzuholen“. Lange wollte man gern glauben, es müsste doch positiv sein, wenn die Kinder früher in die Vereine kommen. Weil man sie dort eher und somit länger fußballspezifisch schulen kann. Doch die Gleichung längere Ausbildung = bessere Fußballer geht nicht auf – und das nicht nur, weil immer noch mindestens 75 Prozent der Kindertrainer Ehrenamtliche ohne jegliche Ausbildung für ihren Feierabendjob sind.

Längst ist durch Studien belegt, dass eine zu frühe, ausschließlich auf Fußball fixierte Ausbildung der späteren Ausschöpfung des Leistungspotenzials sogar entgegensteht. Kein Zufall auch, dass viele Kids dem Ball die kalte Schulter zeigen, wenn sie in die B-Jugend aufrücken. Daran hat nicht nur ein erheblich erweitertes Sport- und Freizeitangebot seinen Anteil. Vielmehr ist der Spaß für viele schon vorbei, bevor es richtig ernst wird. Weil einfach zu früh Ernst gemacht wurde, wenn die Jugendlichen mit 15 schon acht Jahre Fußball gearbeitet haben.

Aus der anhaltenden Debatte um den deutschen Fußballnachwuchs aber wird das Thema „Kindertraining“ nach wie vor ausgeblendet. Zwar investiert der DFB demnächst in das umfangreichste Nachwuchsprogramm seiner fast 100-jährigen Geschichte über fünf Millionen Mark. Doch unter dem Slogan „Talente fördern und fordern“ geht es vorrangig um Elitesichtung und zusätzliche Trainingseinheiten für elf- bis zwölfjährige Großtalente. Ein weiteres Absenken der Leistungsschwelle, etwa in Hamburg seit kurzem in einer fußballbezogenen Schulklasse praktiziert, hält Ingo Wulff jedoch für „nicht unbedingt erfolgreich“.

Der Pädagoge will dem Talentschwund vor allem mit mehr ausgebildeten Kindertrainern in den Vereinen entgegenwirken. Wulff: „Talente sind wohl schon da in den jungen Jahrgängen, gehen dann aber oft verloren wegen eines nicht kindgerechten Angebots. Man muss Wert auf eine breite Basis legen, dann zeigen sich die Talente relativ automatisch. Aber mit einer gewissen Grundkenntnis müsste dort schon gearbeitet werden.“ Was auch dem Trainingsalltag mäßig begabter Steppkes zu Gute kommen würde.