Gene auf Wanderschaft

Jared Diamond untersucht in seinem Buch „Arm und Reich“ die Abhängigkeit menschlicher Zivilisationen von den geografischen Bedingungen. Für Luigi Luca Cavalli-Sforza liegt die Evolution in der genetischen Vermischung von Individuen ■ Von Sebastian Weber

Achtung Absturzgefahr! Schreiben Biologen Geschichtsbücher, dann kann es ganz schnell dazu kommen, dass man beim Lesen in einen tiefen Zeitschacht fällt. Boden unter den Füßen gibt es erst wieder dort, wo der moderne Mensch sehr alt und klein aussieht. Alt, denn bei dem, was Biologen „den anatomisch (und übrigens auch genetisch) modernen Menschen“ nennen, handelt es sich um ein Wesen, das schon ungefähr hunderttausend Jahre auf der Erde unterwegs ist. Klein, denn gemessen an der Erde, der „großen Nährerin“, als die Brecht sie noch besingen konnte, nimmt sich dieses Wesen namens Homo sapiens für die längste, aber kaum bekannte Zeit seiner Geschichte doch sehr bescheiden aus.

Exemplarisch für diese biologisch-historische Fernsicht des Menschen auf sich selbst sind zwei Neuerscheinungen: Jared Diamonds letztes Jahr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes „Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften“ und Luigi Luca Cavalli-Sforzas Vorlesungen am Collège de France über „Gene, Völker und Sprachen“. Das Buch Diamonds, der von der Evolutionsbiologie herkommt, beginnt in Neuguinea. Es zeigt, was die Erde, also Boden und Klima, Flora und Fauna, ihren Bewohnern an Ort und Stelle zu bieten hatte, um dieses Wissen dann vergleichend anderen Gegenden der Erde gegenüberzustellen. Das geschieht im Vertrauen darauf, dass sich aus dem unterschiedlichen Verlauf der Frühgeschichte der Erdteile noch die heutigen Ungleichheiten innerhalb der Staatenwelt und auf dem Weltmarkt besser verstehen lassen.

Um seine Darstellung aufzufrischen, fragt Diamond in regelmäßigen Abständen etwa: „Warum führte die Geschichte nicht dazu, dass beispielsweise Indianer, Afrikaner und australische Aborigines Europäer und Asiaten dezimierten, unterwarfen und ausrotteten?“ Wer seine Fragen auf diese Weise stellt, also einen historischen Vorgang mit seiner irgendwie denkbaren Umkehrung konfrontiert, stünde schnell sehr dumm da, würde er nicht über eine Unmenge hybrider Fakten, Kreuzungen aus Natur und Geschichte, verfügen. So kann der historische Zufall die Enge des bloß Anekdotischen verlassen, um sich auf dem Boden einer naturalisierten Geschichte auszubreiten. Könnte Diamond sonst schreiben, es seien „letztlich geografische und biogeografische Zufälligkeiten – insbesondere die unterschiedliche Größe, Achsenausrichtung und Ausstattung mit Pflanzen- und Tierarten beider Kontinente – entscheidend für den ungleichen Gang der Geschichte in Afrika und Europa“ gewesen?

Das liest sich so, als wollte hier jemand die Erde Erde sein lassen und die Menschen auf ihr bedürftige Lebewesen – ebenso tatkräftig und intelligent wie götterverlassen. Ohne den kultischen Zutaten Beachtung zu schenken, kann theoretisch auch der Kannibalismus leichter verdaut werden: Nichts anderes als eine aus der Not geborene Strategie zur Deckung des Eiweißbedarfs!

Eher beiläufig bringt Diamond seine Art der Geschichtsschreibung auf den Begriff, wenn hier und da von ökologischem oder auch geografischem Determinismus die Rede ist. Über das Innenleben der jeweiligen Gesellschaften, die sich mit diesen Naturbedingungen herumschlagen müssen, erfährt man so allerdings recht wenig. Am aufschlussreichsten ist Diamonds Versuch, „Geschichten als Naturwissenschaft“ zu schreiben, wohl dort, wo er sich auf Zeiten beschränkt, in denen das gesellschaftliche Leben noch nicht staatlich formiert und auch für eine Geschichte in schriftlicher Form noch kein Platz war. Denn was man über die prähistorischen Epochen, die ja nicht umsonst so heißen, weiß, weiß man schließlich vor allem dank naturwissenschaftlicher Verfahren (Stichwort: Radiokarbonmethode zur Bestimmung des Alters historischer Fundsachen). Erscheint jedoch der Kolonialismus der europäischen Staaten nur als Fernwirkung natürlicher Unterschiede zwischen den Kontinenten, wird Diamonds Ansatz der grenzüberschreitenden Gewalt dieses Großunternehmens kaum gerecht. Vielleicht lässt sich deshalb auch schwer unterscheiden, ob wissenschaftlicher Fatalismus oder bloß ein merkwürdig unbedarftes „Pech gehabt!“ den Ton angibt, wenn es heißt: „Die Bewohner Afrikas südlich der Sahara brauchen sich keine großen Hoffnungen zu machen, dereinst die Herrschaft über die Welt zu erringen. Dafür haben die Entwicklungen, die sich schon vor 10.000 Jahren abspielten, zu tiefe Spuren in der Gegenwart hinterlassen.“

Dennoch muss man Diamond als Aufklärer verstehen: Er kann die Kluft zwischen armen und reichen Gesellschaften einer naturgeschichtlichen Fernsteuerung überantworten und zugleich hoffen, damit dem Rassismus den Boden zu entziehen. Diejenigen, die durch die äußeren Umstände begünstigt wurden, sollen sich nicht einbilden, das Geheimnis ihrer mehr oder weniger fragwürdigen Erfolge läge in der Zugehörigkeit zu einer überlegenen Rasse.

Auch der italienische Humangenetiker Cavalli-Sforza bestreitet „biologistisch“ belasteten Ordnungsbegriffen wie Volk, Rasse, Stamm ihre Autorität. Sie taugen allenfalls als provisorische Klassifikationseinheiten. Der traditionelle Gebrauch des Begriffs Rasse mit seinen Zuschreibungen, Auf- und Abwertungen ganzer Populationen deckt sich nicht mit dem, was sich an messbaren genetischen Variationen überhaupt finden lässt. Was das Erbgut betrifft, so ist der Unterschied zwischen einem Afrikaner und einem Europäer nicht größer als der zwischen einem Nord- und einem Südeuropäer. Cavalli-Sforza kennt sich aus mit den krassen Folgen eines Rassereinheitsideals, das etwa bei Züchtern von Hunden und Katzen immer noch hoch im Kurs steht: Tiere, die im Hinblick auf meist willkürlich festgelegte äußere Merkmale eng auf Homogenität gezüchtet werden, erweisen sich als anfälliger für Krankheiten; ihre Fruchtbarkeit nimmt ab, oder sie verblöden. Anzustreben ist generell für Menschen wie Tiere das Gegenteil: genetisch vermischte Individuen.

Dementsprechende Konsequenzen zieht Cavalli-Sforza denn auch bei seiner Einschätzung der vier wesentlichen Mechanismen einer auf die Genetik angewandten Evolutionstheorie. Zunächst gibt es da natürlich Mutationen und die auf sie einwirkende und ihre Träger begünstigende oder vernichtende so genannte natürlich Selektion. In manchen Fällen wie den Blutgruppengenen und den für den Schutz vor Infektionskrankheiten so wichtigen Genen, die die Immunoglobuline erzeugen, kann man aus ihrer großen räumlichen Variation Rückschlüsse auf den Gang der Evolution des Menschen ziehen. Mindestens genauso wichtig sind allerdings die beiden anderen Mechanismen, die Gendrift und die Migration. Als Gendrift wird die zufällig bewirkte statistische Fluktuation von Genhäufigkeiten von einer Generation zur nächsten bezeichnet. Wobei der Zufall für die Evolution so schwer wiegt, dass Darwins Konzept vom „Überleben des am besten Angepassten“ genau genommen das vom „Überleben der vom Glück Begünstigten“ an die Seite gestellt werden muss.

Ferner gilt, dass, wenn Menschen unterwegs sind, auch ihre Gene auf diesen Wanderschaften nicht bleiben können, was sie waren. In kleinen Migrationen tauschen sie sich mit benachbarten Dörfern, Städten oder „Stämmen“ aus. In Kolonisierungen und Expansionen drängen sie in weit entfernte, bisher unbesiedelte Räume vor oder erobern andere Kontinente. Der Prozess der Evolution des Menschen ist von Anfang an einer des Austausches und der damit verbundenen Genmobilität.

Bei der Rekonstruktion des Verlaufs der menschlichen Evolution arbeitet Cavalli-Sforza mit Vertretern anderer Disziplinen zusammen. Nichts scheint ihm besser geeignet, um sich von der Borniertheit des Reduktionismus frei zu halten. Das Gegenteil, „wahrer Holismus, wenn es so etwas überhaupt gibt, ist für mich der multidisziplinäre Ansatz“. Anhand der Daten, die beispielsweise Demographie, Archäologie oder auch die Linguistik zu bestimmten Fragestellungen beisteuern, beginnt sich hier ein Forschungsgebiet abzuzeichnen, das der Autor unter dem Namen „Gen-Geografie“ einführt. Weit entfernt ist das ganze Projekt von der schlechten Reklame auf dem Schutzumschlag des Buchs: Weder sollen hier „die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation“ erklärt werden, noch reiht sich sein Verfasser in die Herde der Sinnstifter ein, die die Genetik vorsorglich zur „Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts“ aufblasen möchten.

Jared Diamond: „Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften“. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1999, 550 Seiten, 19,90 DM Luigi Luca Cavalli-Sforza, „Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation“. Hanser Verlag, München 1999, 252 Seiten, 45 DM