„Krank, nicht unschuldig“

Tomas Murliam, Professor für Soziologie in Santiago, über die mögliche Freilassung von Ex-Diktator Pinochet und die Folgen

taz: Die Entscheidung der britischen Ärzte kommt vier Tage vor der zweiten Runde der Präsidentenwahlen in Chile. Was für Konsequenzen hat das auf den Ausgang der Wahlen in Chile?

Murliam: Die Auswirkungen auf die Wahlen dürften sehr gering sein, denn das Thema Pinochet wurde im Wahlkampf tunlichst verschwiegen. Dabei haben sowohl der Kandidat der Sozialisten, Ricardo Lagos, als auch der Kandidat der Rechten, Joaquín Lavín, bei dem Thema einen ähnlichen Diskurs. Beide wollen, dass Pinochet nach Chile zurückkommt.

Aber wäre Lagos gut beraten, die Rückkehr von Pinochet als Erfolg der Regierung lautstark für sich zu reklamieren?

Das wäre vielleicht gut für die Stimmen von der Rechten. Aber er steckt in einer schwierigen Situation. Würde er damit werben, das als den Sieg seiner Strategie zu benennen, dann kann er nicht mehr auf die Stimmen aus dem linken Lager zählen. Und genau die braucht er, will er die Wahlen gewinnen. Die KP hat keine Wahlempfehlung für ihn ausgesprochen.

Welche Rolle hat denn Pinochet im Wahlkampf gespielt?

Er war praktisch neutralisiert, weil Lavín es geschafft hat, sich in seinem Diskurs komplett von ihm abzukoppeln. Pinochet war nicht im Wahlkampf präsent. Beide Kandidaten haben das Thema im Wahlkampf komplett gemieden.

Wer hat schlussendlich davon profitiert, dass Pinochet nicht im Wahlkampf präsent war?

Ganz eindeutig die Rechte. Pinochet war in der Rechten immer ein permanenter Faktor. Dadurch, dass es Lavín gelang, ihn aus dem Wahlkampf rauszuhalten, konnte er sich von Pinochet lösen und war in der Lage, sich als neuer, als moderner Rechter darzustellen. Lavín hat sich als derjenige präsentiert, der die neoliberale Politik besser verwalten kann. Durch die Abwesenheit Pinochets hat er mehr Stimmen auf sich vereinen können, als die Rechte sonst in Chile bekommen könnte.

Was bedeutet die britische Entscheidung für die Angehörigen der Opfer der Diktatur in Chile?

Sie müssen jetzt weiter kämpfen, damit Pinochet in Chile vor Gericht gestellt wird. Das ist natürlich noch schwieriger, wenn er für prozessunfähig erklärt wird. Aber der Kampf darf nie aufhören. Am Sonntag wurden die Reste eines 15-jährigen Jungen beerdigt, der während der Diktatur in der Kommunistischen Jugend aktiv war und 1974 umgebracht wurde. Diese Verbrechen müssen vor Gericht.

Wäre die Freilassung Pinochets ein Triumph für die chilenische Rechte?

Nein. Pinochet hat nur gezeigt, dass er krank ist, nicht dass er unschuldig ist. Niemals wurde gesagt, dass Pinochet unschuldig ist, er ist nur nicht in der Lage, einen Prozess durchzustehen.

Bleibt nicht trotzdem ein bitterer Nachgeschmack?

Ganz sicher. Meine erste Reaktion auf die Nachricht auf London war auch, das darf nicht sein. Aber andererseits müssen in einem Verfahren die Rechte eines Angeklagten respektiert werden, auch wenn der sich niemals um die Rechte seiner Gegner gekümmert hat. Ich glaube auch, dass eine moralische Sanktion der Militärverbrechen wichtiger ist als eine juristische Sanktion.

Interview: Ingo Malcher