Überraschungs-Ei und Yps für fortgeschrittene Schlaumeier

Und als Gimmick William Gaddis: Die Literaturschachtel „Die Außenseite des Elementes“ erscheint zum achten Mal. Eine Autofahrt mit Herausgeber Jan Wagner  ■ Von Jan Brandt

Es soll Blitzeis geben“, sagt Jan Wagner. Er ist etwas nervös, weil wir spät dran sind und es bis zum Einbruch der Dunkelheit nach Hamburg schaffen wollen. Ich lege meine Sachen auf den Fond eines roten Peugeots 205, neben einige Schachteln. Dann fahren wir los.

Als es zu regnen beginnt, wird Jan Wagner, der ohnehin wenig sagt, noch schweigsamer, und ich fürchte schon, dass das geplante Gespräch über die Schachtel auf dem Rücksitz nicht mehr zustande kommt. Jan Wagner ist nämlich Mitherausgeber eines Literatur- und Kunstprojektes, das sich „Die Außenseite des Elementes“ nennt. Die Arbeiten werden nicht gebunden, sondern lose in einer einfachen Pappschachtel veröffentlicht. In einer Mischung aus Buch, Zeitschrift und Kunstobjekt werden auf über hundert losen Blättern Werke junger, meist noch unbekannter Künstler und Autoren vorgestellt.

Es dauert etwa eine Stunde, bis wir aus Berlin raus sind. Jan Wagner entspannt sich. Er kurbelt das Fenster einen Spalt herunter und zündet sich eine Zigarette an, obwohl seine Mutter ihm das Rauchen in ihrem Auto verboten und neben dem Aschenbecher extra einen Aufkleber angebracht hat. Ein Aufkleber war es auch, der der Schachtel den Namen gegeben hat. 1992 entdeckten die damaligen Herausgeber in Saarbrücken auf einer zu montierenden Glasscheibe den Hinweis: „Die Außenseite des Elementes“.

Der Name wie die Idee selbst ist ein Readymade und geht auf den Vater aller Readymades, Marcel Duchamp, zurück, der in den 20er-Jahren seine Arbeitsnotizen in Schachteln sammelte. Später griffen Joseph Beuys und Klaus Staeck diese Methode künstlerischer Präsentation auf, die der inzwischen in New York lebende Schriftsteller Thomas Girst auf die Literatur übertrug und damit das so genannte „Non Profit Art Movement“ ins Leben rief, dem die Schachtelmacher angehören. Sie verzichten auf Honorare und finanzieren das Projekt aus eigener Tasche.

Jan Wagner fährt konstant 80. Noch immer hat er Angst vor dem Blitzeis, obwohl der Verkehrsfunk für Brandenburg schon Entwarnung gegeben hat. Ab und zu riskiert er über den breiten Kragen seines orangefarbenen Hemdes einen Schulterblick und überholt die vorausschleichenden Lastwagen. Eigene literarische Versuche behandelte er ebenso vorsichtig wie jetzt sein Leben. Seine erste Veröffentlichung hatte er vor ein paar Jahren in der Schachtel, damals war er nur Autor, und heute als Herausgeber ist er dankbar, dass die Schachtel aus losen Seiten besteht. „Jeder kann selbst bestimmen, was drinbleiben soll und was nicht“, sagt Wagner.

Zu Anfang basierte das Prinzip der Schachtel auf Freundschaft. Die Szene war nach außen weitgehend abgeschottet. Thomas Girst und Jan Wagner wollten weiter gehen, einen eigenen Verlag gründen, die Seiten professionell layouten anstatt zu kopieren und regelmäßig zweimal im Jahr erscheinen. Das sei einigen zu marktkonform gewesen, vermutet Wagner. Aber Thomas Girst und er waren der Ansicht, dass man die vorhandenen Strukturen nutzen könne, ohne die Unabhängigkeit zu verlieren. Sie wollten die Schachtel öffnen und, wie Wagner sagt, „potentielle geistige Verwandte in anderen Ländern kennen lernen“.

Der jamaikanische Lyriker Dwight Maxwell ist so ein „geistiger Verwandter“. Er ist mit seinen melancholischen Gedichten seit einigen Ausgaben in der Schachtel vertreten. Andere Autoren kommen aus Irland, England, Finnland, Polen und China. Aus Amerika: Als Gimmick liegt in der Schachtel das letzte Interview mit dem verstorbenen amerikanischen Romancier William Gaddis. Und aus Deutschland: Ulrike Draesner und Ralf Bönt sind dabei, zusammen mit Autoren, die man nicht so gut kennt, wie den Kölner Lyriker Thilo Schmid.

In der Schachtel liegen auch Bilder, von Werner Friedrichs, Sergio Ruzzier und Andrea Ventura und anderen Künstler. „In Zukunft wollen wir das Medium Schachtel noch stärker nutzen“, sagt Jan Wagner, der inzwischen auch schon mal 100 fährt. Die Autobahn ist trocken.

Als Gimmick könnte er sich beispielsweise ein zerschnittenes Bild vorstellen, das auf die 500 Schachteln verteilt wird. Würden sich alle Käufer treffen, ergäbe das wieder das ganze Bild. „Und darum geht es: um Austausch und Kontakt auf internationaler Ebene“, sagt Jan Wagner aufgeregt. Er ist richtig in Fahrt gekommen und hört kaum noch auf zu reden.

Erst jetzt bemerke ich die Figur, die vom Rückspiegel baumelt: „Fahr nicht schneller, als dein Schutzengel fliegt“. Ich schaue vorsichtshalber aufs Tacho. Jan Wagner hat keinen Grund, Gas zu geben. Das Jahr ist super für ihn gelaufen. Zwar hat er beim Open Mike der Literaturwerkstatt keinen Preis gewonnen, aber viel Anerkennung bekommen, und als Übersetzer von James Tate wurde ihm der Hamburger Übersetzerpreis zugesprochen. Im Herbst 2000 erscheint ein Gedichtband in einem Berliner Verlag.

Langsam wird es dunkel. In der Dämmerung schimmert der Himmel violett. Für einen Moment konzentriert er sich nicht auf den Verkehr. „Schau doch nur“, sagt Jan Wagner und deutet nach rechts auf die Felder Mecklenburg-Vorpommerns. Ich muss an eines seiner Gedichte denken, es heißt „Eis“.

„Die Außenseite des Elementes No. 8“, 131 lose Seiten, 15 Mark, auf Bestellung direkt über den Verlag (Tel. 44 04 97 39) und im Buchhandel erhältlich.